30.08.2015

charles lewinsky: melnitz

das geordnete leben einer jüdischen familie in endingen kommt im späteren 19. jahrhundert ziemlich durcheinander, als nachts ein entfernter verwandter vor der türe steht und um aufnahme bittet. bis in die zeit nach dem zweiten weltkrieg erleben wir die wechselvolle familiengeschichte über vier generationen. nicht nur die sich über die jahre verändernden werte und bedingungen, haben einen einfluss auf traditionen und das jüdische leben innerhalb und ausserhalb der familie, sondern auch die unterschiedlichen charaktere, die durch heirat aufnahme in die familie finden.
freude und trauer, glück und pech, wahrheit und lüge bestimmen den zeitlauf. einzigartig werden gefühle und ereignisse oft nur in andeutungen beschrieben und trotzdem wird man beim lesen nie im ungewissen gelassen. ebenso einzigartig ist die beschreibung der einzelnen personen: jeder und jede eine besondere erscheinung mit speziellem verhalten und besonderen fähigkeiten.
ueber siebenhundert seiten fesselte mich der roman derart, dass ich ihn beinahe ohne unterbrechung gelesen habe.

19.08.2015

ayelet gundar-goshen: löwen wecken

etan, neurochirurg und treusorgender familienvater überfährt nachts einen illegalen einwanderer. nur wenige momente des zögerns, dann lässt er ihn liegen und fährt unerkannt davon. dem opfer ist sowieso nicht mehr zu helfen und niemand hat es gesehen, weshalb also die karriere aufs spiel setzen. am nächsten tag steht die frau des opfers vor der türe und macht ihm für ihr schweigen einen vorschlag, der sein leben in den nächsten wochen vollkommen aus der bahn wirft.
faszinierend exakt und konsequent beschreibt die autorin ein entstehendes lügengebäude, das immer kom­plexer und komplizierter wird, bis es zusammenbricht.
nicht nur die frage, wie man selbst in einer solchen situation handeln würde, wird aufgeworfen. die fragen über den wert des einzelnen lebens, über gleichheit und menschlichkeit sind die botschaften dieses romans, dessen ende alles andere als kitschig ist und der sich trotz der komplizierten und vielschichtigen handlung leicht liest.

10.08.2015

javier sebastián: der radfahrer von tschernobyl

nicht ganz freiwillig nimmt sich der erzähler dem alten mann an, der offensichtlich in einem fast-food-restaurant in paris ausgesetzt wurde. dass es sich um einen russischen atomphysiker handelt, der seinerzeit in tschernobyl noch schlimmeres verhindert hat, stellt sich erst im verlauf der geschichte heraus. er ist auf der flucht, der russische geheimdienst scheint hinter ihm her zu sein.
in der retortenstadt prypjat, die eigens für die beschäftigten des kernkraftwerkes gebaut worden war, gibt es kaum noch leben. nur eine handvoll zurückgebliebener menschen, die sich weigern wegzuziehen, leben in diesem apokalyptischen umfeld. hier wohnte auch der alte mann vor seiner flucht. die geschichte fügt sich in dieser rückblende zu einem ganzen.
trotz der schwierigen und schrecklichen tatsachen ist der roman spannend und unterhaltsam. zwischen fiktion und realität bringt uns der autor nicht nur die ereignisse der katastrophe näher, sondern beschreibt, wie menschen in dieser schrecklichen situation die kluft zwischen ueberlebensegoismus und sozialem gruppenverhalten bewältigen.

08.08.2015

lukas bärfuss: koala

die auseinandersetzung mit dem selbstmord seines bruders ist das zentrale thema des autors. er hatte keine besonders nahe beziehung zu seinem bruder, der seinem leben ein ende setzte, ohne dass zeichen dafür zuvor erkannt worden wären.
bei den pfadfindern wurde er auf den namen „koala“ getauft. der koala ist ein ganz eigenartiges tier, das sein leben vorwiegend mit fressen und schlafen verbringt, selbst die fortpflanzung scheint eine anstrengung zu sein, der sich die koalas jeweils nur kurz hingeben.
der autor geht der frage nur am rande nach, was sein bruder wohl mit einem koala gemeinsam hatte. er widmet sich jedoch ausgiebig der geschichte der entdeckung und den lebensumständen dieser tiere und scheint darin die antworten zu seinen fragen zu finden. die auseinandersetzung ist ein eher philosophisches werk um das fühlen und erleben des suizides in der familie.
vor allem aber ist der sprachlich einzigartig schöne text das, was mich am lesen gehalten hat.