25.09.2011

melinda nadj abonji: tauben fliegen auf

aus der vojvodina kam der vater der erzählerin in die schweiz, danach die mutter, später die kinder, die bisher in der kleinstadt bei der grossmutter gelebt haben;  also das was uns unter dem amtlichen begriff "familiennachzug" bekannt ist. die geschichte einer immigrantenfamile, die sich integriert, die hart arbeitet, verzichtet, die erfolg hat, sich ihr leben einrichtet, sich einbürgern lässt, aber auch verbunden bleibt, mit ihrer herkunft, eine geschichte, die viele menschen in der schweiz haben..
schon nach dem lesen des ersten kapitels verstehe ich, dass dieses buch den deutschen und den schweizerischen buchpreis erhalten hat. so eindringlich, witzig und lustig, aber ebenso tiefgründig und reflektiert beschrieben,  entdecke ich hier das leben der familie kocsis, beschrieben aus der sicht der tochter. ohne die geschichte zu beherrschen stehen die ansprüche und träume der eltern, deren ideale und ziele, herkunft und tradition dem westlichen leben hier gegenüber. der beginn des krieges in jugoslawien gefährdet die ruhe und das bisher erreichte zusätzlich. immer wieder überrascht trifft man auf neue problemfelder, die sich stellen, die aber auch bis zum schluss immer wieder irgendwie -- und sei es durch schweigen und verdrängen der eltern und der meist stillen auflehnung der töchter -- gemeistert werden. die letzten beiden kapitel bringen einen unerwarteten, aber schönen und stimmigen schluss. 
in extrem anschaulichen bildern beschreibt melinda nadj abonji ein leben von eingewanderten, von dem wir hier immer sesshaften zwar irgendwie ahnen, dass es so sein könnte. ohne verbitterung, ohne hadern und zweifeln beschreibt sie eine lebensrealität vieler junger leute in diesem land und bleibt auch den einwanderungsgegnern und "überfremdungsgeängstigten" gerecht und fair.

21.09.2011

philip roth: nemesis

zur zeit in der der roman handelt, gibt es noch keine polioimpfung, die krankheit ist noch nicht beherrschbar. bucky cantor, ein junger sportlehrer betreut auf einem sportplatz in newark die zuhause gebliebenen jungen und mädchen. der bedrohung der grassierenden kinderlähmungsepidemie in der stadt stellt er sich mit abgeklärtheit und versucht die menschen in der aufkommenden hysterie zu beruhigen. das verhalten der verängstigten gesellschaft erinnert einen an die jüngste geschichte der achtziger jahre des letzten jahrhunderts, als das aufkommen von aids angst und schrecken verbreitete.
seine verlobte arbeitet zur gleichen zeit in einem jugendlager auf dem land in vermeintlicher sicherheit. der dortige schwimminstruktor wird in die armee abberufen, eine stelle für bucky, der sich überreden lässt, hinzufahren. eine woche später tritt der erste poliofall in diesem jugendlager auf. hat bucky die viren eingeschleppt? auch er erkrankt kurz darauf und trägt schwere folgeschäden davon. aus dem einst sportlichen und kräftigen jungen mann wird ein schatten seiner selbst, dessen persönliche krisen sich vor den augen des lesers, der leserin auftun. 
in einer starken und präzisen sprache entwickelt sich die geschichte, doch enthält sie passagen, die die geduld beim lesen auf eine harte probe stellen.

17.09.2011

david adams richards: brennendes eis

das leben einer kleinen dorfgemeinschaft an einem fluss im osten kanadas ist geprägt von armut und gegenseitiger abhängigkeit in den unterschiedlichen machtverhältnissen. aufgrund eines ereignisses verspricht sydney niemandem gewalt anzutun, geschehe was wolle. er hält dies mit aller konsequenz durch und erleidet für sich und seine familie viele demütigungen und nachteile.archaisches leben in armut lässt einen immer wieder staunen, dass dies alles in der zweiten hälfte des 20. jahrhunderts passiert. zudem in einer unwirtlichen gegend mit kurzen sommern und harten, schneereichen wintern.
der sohn sydneys – der ich-erzähler – lehnt sich auf gegen armut und demütigung, wird gewalttätig und wehrt sich für sich und seine familie. mit der einsetzung eines neuen polizisten, der von dieser dörflichen gemeinschaft und deren gegenseitigen abhängigkeiten nicht beeinflusst ist, wendet sich das blatt, viele wahrheiten kommen ans licht und die gerechtigkeit beginnt spät einzug zu halten, die machtverhältnisse beginnen sich umzudrehen.
die beschreibung der intrigen, der lügen und der gewaltbereitschaft, der hinterlistigen bündnisse und verleumdungen sucht seinesgleichen. mit einer unglaublichen stärke und direktheit – so dass es mir als leser zeitweise kalt den rücken herunterläuft – werden die niederungen des menschlichen verhaltens zur erhaltung des eigenen vermögens und ansehens beschrieben. mit spannung verfolgt man die geschichte und ist immer wieder überrascht, wie es noch schlimmer kommt.
warum der titel des englischen originals „mercy among the children“ in der deutschen übersetzung „brennendes eis“ wird, bleibt bis zum schluss ein rätsel.