26.04.2017

uwe timm: der freund und der fremde

die späten 1960er-jahre waren gezeichnet von unruhen und demonstrationen. in ganz europa ging die jugend auf die strasse. wer erinnert sich noch an benno ohnesorg, der 1969 auf einer anti-schah-demonstration in berlin von einem polizisten erschossen wurde?
der autor holte mit ihm in braunschweig das abitur nach und sie wurden in jener zeit freunde. literatur und schreiben verband sie. in dieser erzählung blickt uwe timm zurück auf die zeit der jugendfreundschaft in einer bewegten zeit des aufbruchs und der rebellion. aus eigenen erfahrungen und auf der basis von gesprächen mit weggefährtinnen und weggefährten ohnesorgs, zeichnet er das bild eines stillen, sensiblen und intelligenten jungen mannes, dessen leben ein gewaltsames und sinnloses ende fand.
ein schönes, beinahe poetisches buch, das einem menschen, der so früh den tod fand ein würdiges denkmal setzt.

18.04.2017

meinrad inglin: urwang

in einem ruhigen bergtal wird der bau eines wasserkraftwerkes mit einem stausee geplant. mehrere bauernhöfe mit ihrem land werden überschwemmt werden. neben den fortschrittsgläubigen, die in der industrialisierung eine zukunft sehen und sich mehr arbeitsplätze und reichtum erhoffen, gibt es die menschen, die ihre seit generationen bewirtschafteten höfe nicht verkaufen wollen, sich aber letztlich aus unterschiedlichen gründen dazu gezwungen sehen. bagger und baumaschinen fahren auf, ein uralter bergahorn muss der neuen strasse weichen und ein teil des immer gut gepflegten waldes wird gerodet. die talgemeinschaft, in der jeder jedem geholfen und beigestanden hat, wird auseinandergerissen.
mit sprachlicher wucht beschreibt meinrad inglin eine konservative gesellschaft mit einem ausgeprägten gegenseitigen verantwortungsbewusstsein. nicht nur der technische fortschritt bricht über die hier ansässigen menschen herein, auch ein teil der jugend, die in den städten arbeitet und wohnt, kommt mit neuen ideen und anderen wertehaltungen nach hause.
allein die einzigartig detaillierte und farbige beschreibung der natur im jahreszeitenwechsel und der einzelnen figuren lohnt schon die lektüre. vor diesem hintergrund einen solch eindringlichen sozial- und gesellschaftsroman zu finden, ist eine wahre lesefreude. die spannende handlung liess mich das buch kaum aus der hand legen.

15.04.2017

siegfried lenz: der ueberläufer

in den letzten kriegsmonaten kommt alfred proska zu einer kleinen einheit, die den auftrag hat eine bahnlinie zu bewachen. bereits umzingelt von partisanen und den kontakt zur eigenen truppe verloren, erteilt der korporal oft sinnlose befehle. für alfred stellt sich immer mehr die sinnfrage und als sich die gelegenheit gibt überzulaufen, nutzt er sie. nach kriegsende bleibt er im sozialistischen lager und arbeitet an einer dienststelle, wo immer wieder mitarbeiter verschwinden und durch neue ersetzt werden. bevor er selbst entfernt wird, flüchtet er in den westen.
ein tiefgründiges und ergreifendes buch, das einen ganz nah ins kriegsgeschehen führt und uns drastisch und konkret wie selten das dilemma von männern an der front nahe bringt. entsetzliche, unmenschliche situationen, die auszuhalten und zu überleben sind, momente in denen nur das töten eines anderen das eigenen ueberleben garantiert, werden so konkret, dass es beim lesen kaum auszuhalten ist. die schwäche des menschen, der immer wieder fremdbestimmt ist, reduziert sich aber auch später wieder einzig auf das eigene sein und leben.

04.04.2017

joël dicker: die geschichte der baltimores

marcus goldman kommt aus einer mittelstandsfamilie. er bewundert die familie seines onkels saul in baltimore. sie ist reich und hat ein harmonisches leben. alle ferien und viele wochenenden verbringt er da, zusammen mit hillel und woody, seinen cousins. sie sind engste freunde, teilen alles und haben keine geheimnisse voreinander. diese geordnete welt erhält aber erste risse und immer mehr zerbricht alles. jahre später ist marcus ein erfolgreicher schriftsteller geworden und macht sich daran, die geschichte der baltimores aufzuschreiben. bei seinen nachforschungen wird er von vielen wahrheiten und wirklichkeiten überrascht.
ein roman, der einen von der ersten zeile an fesselt. gleich zu beginn wird schon klar, dass eine katastrophe über die baltimores hereingebrochen war. langsam führt einen der autor an dieses ereignis, das man über hunderte von seiten mit spannung erwartet. einiges klärt sich langsam auf und man beginnt zu begreifen, wie wenig es braucht, dass menschen von ihrem bisherigen weg abkommen und dinge tun, die sie letztlich ins verderben führen. oft sind beobachtungen und falsche interpretationen der anlass zum beginn des niedergangs.
aber nicht nur spannend sondern auch ergreifend ist diese geschichte, denn den vom lesenden geliebten protagonisten geschieht schlimmstes. das buch ist mir tagelang nachgegangen.