29.09.2020

saša stanišić: herkunft

während des jugoslawienkrieges kommt der autor als 14-jähriger mit seinen eltern auf der flucht nach deutschland. nichts ist mehr, wie es war. nach dem anfänglichen aufenthalt in einem flüchtlingsheim wohnt seine familie später in einem sozial eher schwachen viertel heidelbergs. der treff der jugendlichen unterschiedlichster herkunft ist eine tankstelle. hier findet er freunde. lange dauert die unsicherheit, ob seine familie in deutschland bleiben darf. zurückgeblieben in der alten heimat ist die grossmutter, die er später immer wieder besucht. seine reisen dahin führen ihn in sein herkunftsland, in dem ein krieg das selbstverständliche zusammenleben der menschen zu einem komplizierten konfliktfeld hat werden lassen.
selten habe ich ein so einzigartiges buch, voll von starken texten gelesen, die stimmungen, gefühlslagen und realitäten aus der sicht eines jugendlichen beschreiben, dessen leben eine totale wende nimmt. die autobiografisch geprägten kapitel geben unablässig eine neue sicht auf die vielgestaltigen probleme, die eine solche flucht nach sich zieht. konsequent ausschliesslich beschreibend und nie wertend gelingt es dem autor – ohne humor und zuversicht zu verlieren – einen kritischen blick auf das geschehen zu werfen. die auseinandersetzung mit seiner herkunft ist nicht nur sehr berührend, sondern hat etwas wegweisendes. und, wie er das buch zu ende führt, ist eine nicht ganz einfache, aber gelungene ueberraschung.

22.09.2020

andré aciman: damals in alexandria

in der ägyptischen stadt alexandria, wo vertreter aller religionen nebeneinander leben, verbringt der autor die kindheit in seiner jüdischen grossfamilie. aus dieser perspektive schreibt er über das leben in den 1950er jahren. als wohlhabende leute führen seine tanten und onkel ein leben mit bediensteten – im winter in der stadt, im sommer am meer – und nehmen am damaligen gesellschaftlichen leben teil, das sich an europäischen vorbildern orientiert. mit dem suezkrieg und der machtergreifung nassers ändert sich vieles, bis seine familie 1965 das land verlassen muss und nach italien übersiedelt.
dieses unterhaltsame und erfrischende buch vermittelt nicht nur ein stück familiengeschichte, sondern widerspiegelt auch das damalige leben in dieser nordafrikanischen stadt. fasziniert bin ich vor allem von der bildhaften darstellung der charaktere und den humorvollen, anekdotenhaften ereignissen, die einen immer wieder schmunzeln lassen. auch die komplexe und trotzdem leicht zu lesende sprache hinterlässt einen nachhaltigen eindruck.

15.09.2020

kent haruf: unsere seelen bei nacht

addie, eine 70-jährige witwe lebt in einer kleinstadt in colorado. zwei häuser weiter lebt der etwa gleichaltrige louis, der auch verwitwet ist. eines tages klingelt sie bei ihm und fragt ihn, ob er nicht hin und wieder bei ihr übernachten könne. nach einer kurzen bedenkzeit sagt louis zu. in der nacht nebeneinander liegend erzählen sie sich aus ihrem leben und werden freunde. aber das ganze bleibt nicht unbemerkt und gibt zu reden im ort.
ein text über freiheit, die man hat, wenn man sie sich nimmt. zwei erwachsene, ältere menschen, die nichts unrechtes tun, kommen trotzdem ins gerede. ein exemplarisches beispiel wie hypothesen und vermutungen zu falschen wahrheiten werden. das aktuelle und komplexe thema des selbstbestimmten alterns wird in dieser eigentlich braven geschichte treffend erarbeitet.

10.09.2020

robert seethaler: der letzte satz

gustav mahler, der schon zu lebzeiten berühmte komponist und dirigent, ist auf seiner letzten reise von amerika nach europa. an deck des schiffes blickt er hinaus auf den ozean, schaut auf sein leben zurück und erinnert sich an viele entscheidende oder berührende momente. nur der schiffsjunge, der für ihn sorgt und ihn bedient, ist sein zeitweiliger kurzer gesprächspartner, sonst bleibt er allein.
der autor setzt mahler ein ganz besonderes denkmal. in diesem wunderbaren buch beschreibt er subtil und gefühlvoll die gedanken und empfindungen eines mannes, der das ende seines lebens nahen sieht.