20.02.2023

thomas röthlisberger: zuckerglück

er und sein bruder verbringen ihre jugend in ihrer familie. die schwester ist kurz nach der geburt gestorben, bleibt aber immer präsent. nicht immer ist es einfach, gross zu werden und auch die eltern haben probleme miteinander, was ihn als sohn belastet. langsam befreit er sich und geht seinen eigenen weg.
die oft kurzen, autonomen kapitel ohne wirkliche handlung beschreiben einzelne erlebnisse und begebenheiten. aus einer gewissen distanz erzählt, lassen sie eine dokumentarisch anmutende geschichte voll von tabus und unausgesprochenem entstehen. die knappe sprache hinterlässt ein ganz spezielles leseerlebnis.


14.02.2023

katharina zimmermann: kein zurück für sophie w.

berner oberland ende des 19. jahrhunderts. sophie, eine fröhliche, dem leben zugewandte junge frau stösst mit ihrer weltoffenen art und ihren fortschrittlichen gedanken in der familie ihres mannes immer wieder auf ablehnung. als sie eine damals moralisch geltende grenze überschreitet, wird sie von ihrem mann verstossen. um einen skandal zu vermeiden, schickt man sie nach amerika, wo sie von starkem heimweh geplagt nie wirklich glücklich wird. als ihr geschiedener mann die gemeinsame tochter zwingt über den atlantik zu ihr zu reisen, um deren uneheliche schwangerschaft zu verbergen, nimmt die geschichte eine unerwartete wendung.
die erzählerin geht dem geheimnisvollen leben ihrer grosstante nach, deren existenz verheimlicht wurde. fragen zu stellen und über sie zu sprechen wurde in der ganzen familie tabuisiert. von verschiedenen noch lebenden älteren verwandten lässt sie sich erzählen, was sie noch wissen. so setzt sich geschichte und handlung zu einem ganzen zusammen. sie vermittelt uns nicht nur anschaulich die damaligen lebensumstände, sondern auch die moralvorstellungen jener zeit. spannend und unterhaltsam geschrieben, leicht zu lesen, bringt uns dieses buch eine noch nicht allzu lange vergangene zeit nahe.

07.02.2023

lea ypi: frei

lea lebt die ersten zehn jahre im von der welt abgeschotteten sozialistischen albanien enver hoxhas. für sie sind die in dieser gesellschaft vermittelten werte das einzige, woran sie sich orientiert, sie kennt nichts anderes. nur bei ihrer grossmutter wirkt die herkunft aus einer reichen oberschichtfamilie noch irgendwie nach, was bei lea manchmal fragen aufkommen lässt, auf die sie kaum antworten erhält. mit dem fall des eisernen vorhangs verändert sich nicht nur das leben, sondern auch die sicht auf die werte und bedeutungen. verluste und gewinne beginnen sich augenscheinlich die waage zu halten, oder doch nicht?
auf autobiografischer basis erzählt lea ypi ihre lebensrealitäten aus der sicht des kindes, das sie damals war. gleichzeitig reflektiert sie diese erlebnisse als erwachsene in einem genialen text und lässt uns damit ein stück geschichte auf eine ganz andere weise erfahren. der blick in das unzugängliche und geheimnisumwitterte land ihrer kindheit ist sehr differenziert. emotional und sachlich zugleich berichtet sie über politisches bewusstsein, abhängigkeiten und was freiheit in verschiedenen momenten bedeutet, aber auch darüber, wie schnell das willkommensein als flüchtling in abweisung umschlägt. sehr bewegend lässt sie uns an dem teilnehmen, was viele menschen aus sozialistischen staaten nach deren ende erlebt haben.