26.03.2012

andrea de carlo: sie und er

die geschichte beginnt im strömenden regen auf einer autobahnausfahrt vor milano. sie – clare – wartet mit ihrem freund stefano im auto vor dem rotlicht, er – daniel – fährt schon ziemlich angetrunken mit seinem alten jaguar cabriolet hinten auf sie auf. sie finden ihn halbwegs bewusstlos auf seinem fahrersitz. so begegnen sich die zwei hauptprotagonisten zum ersten mal. clare, die nach ein paar schwierigen und unordentlichen beziehungen bei stefano mit seinem wohlgeordneten leben sicherheit und halt zu finden scheint, wird durch diese begegnung emotional total aufgewühlt. daniel, vater von zwei kindern, nach gescheiterter ehe und mehreren eher lauen beziehungen zu frauen, geht es ebenso. sie suchen sich und treffen sich immer wieder. jede ihrer begegungen ist voll von unausgesprochenem und missverständnissen. nur langsam und auf vielen umwegen kommen sie sich trotzdem näher und scheinen sie sich zu erkennen. es bleibt letztlich offen, wie es ausgeht.
die handlung ist ziemlich verrückt, zeitweise etwas zusammengesucht und manchmal auch nicht ganz klar, aber über weite strecken spannend und aufregend. sie ist aber nur die plattform auf der der autor uns teilnehmen lässt an all den emotionen, gedanken, unsicherheiten und zweifeln einer liebe, die unter schwierigen bedingungen beginnt. von kapitel zu kapitel abwechselnd erfahren wir seine und ihre gedanken, wünsche, träume und vorstellungen, spüren so selbst, wie nah sie beieinander sind, wie sehr sie aeusserungen, verhalten, begegnungen und erscheinungen missdeuten und einfach nicht zueinander finden.
die ganze geschichte hat immer wieder witz und ironie, ist keineswegs larmoyant oder gar kitschig. abgesehen von ein paar längen im letzten drittel ist es ein buch, das einen kaum die lektüre unterbrechen lässt, vor allem weil es gefühlslagen und empfindungen beschreibt, die uns allen in irgend einer form auch bekannt sind.

19.03.2012

steven uhly: adams fuge

die mutter ist deutsche, der vater türke. die kinder wachsen anfänglich in deutschland auf. nach der trennung der eltern geht der vater zurück in die türkei und nimmt die vier kinder mit. adam wächst dort auf, geht zur schule, wird später in die türkische armee einberufen und tötet während eines einsatzes im osten des landes einen kurden: wie sich schnell herausstellt ein doppelagent. adam wird zu seiner sicherheit vom türkischen staat mit einem falschen deutschen pass zurück nach deutschland geschickt und erhält einen geheimdienstlichen auftrag.
zurück bei seiner mutter und seinen halbgeschwistern nimmt das schicksal seinen lauf. der versuch, seinen auftrag zu erledigen bringt ihn wiederholt in schwierigkeiten. immer wieder treten andere agenten und geheimdienstler unterschiedlichster provenienz auf, deren aufgaben und herkunft nicht immer genau zuzuordnen ist. immer wieder ist er auf der flucht quer durch deutschland, immer wieder bringt er jemanden um. zum schluss spitzt sich die geschichte zu. eine art befreiungsaktion für den vater, der als geisel genommen worden war, nimmt einen ungewissen ausgang. ist das alles wirklichkeit oder erwacht adam jetzt erst aus einem traum?
ein rasanter und spannender roman der sich permanent zwischen fiktion und realität hin und her bewegt. beim lesen ist es nie ganz klar, was ist wirklichkeit, was ist traum. der autor konfrontiert uns in dieser fugenartig komponierten geschichte mit allen clichés über das verhältnis der türken und deutschen zueinander, macht parallelen zu anderen schwierigen beziehungen zwischen ansässigen und zugewanderten, zwischen verschiedenen ethnien und völkern. die geschichte, so unwahrscheinlich sie daher kommt liest sich wie ein krimi. nur schwer lässt sich das buch weglegen um eine lesepause zu machen.

11.03.2012

arno camenisch: sez ner, hinter dem bahnhof, ustrinkata    (bündner trilogie)

sez ner entführt uns einen sommer lang ins leben auf der alp. klare hierarchische strukturen legen hier fest, was wessen aufgabe ist, wer wann wo zu sein und wer das sagen hat. aus der optik desjenigen, der am unteren ende der rangordnung steht ist die sicht darauf kritisch. nichts wird verklärt. rau und hart wird untereinander und mit den tieren umgegangen. der gleichmässig verlaufende alltag wird nur unterbrochen von ereignissen wie unwettern, verirrten touristen und der alpsegnung durch den pfarrer, in denen die kleine abgeschlossene gemeinschaft der vier aelpler den blicken anderer ausgesetzt wird. hinter dem bahnhof beginnt der rückblick auf eine kindheit im dorf, wo alle alle kennen und alles seine regeln hat. die freiräume der kinder sind gross, sie beobachten und kommentieren das geschehen der teilweise recht skurrilen figuren und ungewöhnlichen begebenheiten. die erinnerungen an eine unbeschwerte jugend steht in starkem gegensatz zu der stimmung in ustrinkata. der letzte abend im helvezia, dem wirtshaus im dorf. eine art endzeitstimmung, viel wird gebechert, unaufhörlich werden bier und wein aufgetischt und ebenso unaufhörlich wird zur zigarette gegriffen. man spürt förmlich die rauchschwaden in der wirtsstube hängen. ereignisse der vergangenheit auferstehen in den diskussionen. die dörfler aus der sicht der erwachsenen sehen etwas anders aus, als die aus der sicht der kinder. alle drei bücher lassen uns am leben in der survelva (bündner oberland) teilnehmen. eine gesellschaft, in der sich über jahrhunderte traditionen erhalten haben, in der die katholische kirche noch immer vieles prägt, eine gesellschaft in der gegenseitige verantwortung und fürsorge ebenso spürbar ist, wie die toleranz denen gegenüber, die nicht ganz so sind, wie die anderen. in einer fast collageartigen erzählweise führt uns arno camenisch in das leben seiner kindheit zurück. die sprache, immer wieder durchsetzt mit rätoromanischen und dialektwörtern, trifft genau, ist spannend und lässt einen teilhaben an bildern und geschichten, die uns sonst nicht so zugänglich erscheinen. alltag, der in ähnlicher form uns allen auch ausserhalb dieser fernen und in sich geschlossenen dorfgemeinschaft bekannt ist. schade, dass nur sez ner in beiden sprachen geschrieben ist. ich habe die rätoromanische version bei den beiden anderen büchern sehr vermisst. il roman sez ner meina nus duront ina stad ella veta dad alp. structuras hierarchicas e claras fixeschen cheu, tgei ch’ ei il pensum da mintgin, tgi che ha dad esser cura nua, e tgi che ha da cumandar. ord l'optica da quel che stat il pli giudem en quei uorden datti ina vesta critica. nuot vegn glorificau, diras e ruhas ein las relaziuns denter ils umens ed era enviers ils animals. il mintgadi varga ruasseivlamein e vegn mo interruts da differents schabetgs. ei dat urezis, turists vegnan giud via, igl augsegner vegn sin viseta per benedir l’alp leu nua ch’ils quatter umens ein exponi allas egliadas dils auters. „hinter dem bahnhof“ entscheiva cun in sguard anavos sin ina affonza el vitg. tuts enconuschan in l’auter e tut funcziunescha suenter las medemas reglas. las libertads dils affons ein grondas. els contemplan e commenteschan ils eveniments bizars e las circumstanzias nunusitadas. las regurdientschas vid ina giuventetgna senza quitaus stattan en in ferm cuntrast cun l’atmosfera en „ustrinkata“. la davosa sera el helvezia, l'ustria dil vitg. en quella atmosfera apocaliptica vegn buiu bia, senza fin vegn surviu vin e gervosa ed ei vegn fimau nuniterrutamein cigarettas. ins senta propi ils nibels da fem che pendan ell’ustria. ord las discussiuns neschan reminiscenzas dil vargau. las opticas dils carschi e quellas dils affons ein differentas. tut ils treis cudischs laian prender part dalla veta en surselva. ina societad che ha manteniu sias tradiziuns duront tschentaners, ina societad che stat sut l'influenza dalla baselgia catolica. la responsablad vicendeivala ed il provediment ein presents, sco era la toleranza enviers quels, ch'ein buc exact sco ils auters. en quels texts en moda da collage meina arno camenisch nus ella veta da sia affonza. il lungatg, ei adina puspei enrihius cun plaids romontschs e plaids da dialects svizzers. sias raquintaziuns ein spir tensiun, tuccan precis, e laian separticipar vid maletgs e raquens, ch'ein per ils lecturs d’ordeifer enconuschents ord il mintgadi e tuttina grev da vegnir vitier. a mi ha ei plaschiu ch’ il roman sez ner ei vegnius screts en dus lungatgs. las versiuns romontschas dils dus cudischs suandonts han muncau a mi.

05.03.2012

charles lewinsky: gerron

kurz vor beginn des 20. jahrhunderts wird kurt gerron in eine zeit geboren, die ihn später zwei kriege erleben lässt. im ersten weltkrieg wird er an der front verwundet, später mit seinem angefangenen medizinstudium in einem lazarett eingesetzt. nach dem krieg wendet er sich seiner wirklichen leidenschaft, der schauspielerei, dem theater und dem film zu und wird damit berühmt. nach der machtergreifung der nationalsozialisten verlässt er – wegen seiner jüdischen abstammung – deutschland und kommt auf umwegen nach amsterdam. nach der besetzung der niederlande ist er auch da nicht mehr sicher, verpasst aber alle fluchtmöglichkeiten nach amerika und wird letztlich ins durchgangslager westerbork verbracht und von dort später zusammen mit seiner frau ins konzentrationslager theresienstadt transportiert. auf anordnung des dortigen lagerkommandanten soll er einen propagandafilm über das schöne leben in theresienstadt drehen. die verweigerung würde seinen tod bedeuten, die zustimmung könnte einigen leuten das leben retten.
dieser roman konfrontiert uns mit den schrecklichkeiten der kriege und der unterdrückung von menschen durch menschen. während wir den hauptprotagonisten durch das ganze buch begleiten, verändert sich seine gesellschaftliche stellung. seine gefühle, sein denken und handeln passen sich den umständen an, seine ethische grundhaltung und sein rechtsempfinden bleiben aber bis zum schluss unverändert. der autor lässt uns an den gedanken der figuren teilnehmen und führt uns so vor augen, warum jeder und jede in extremsituationen dinge zu tun bereit ist, die er oder sie zuvor niemals für möglich gehalten hätte. die sparsame beschreibung von körperlichen uebergriffen und strafen, richtet den blick des lesenden stark auf die psychische gewalt, die teilweise mit sehr wenigen, aber perfiden mitteln an häftlingen und unterdrückten ausgeübt wird.
das buch fusst auf historisch belegten ereignissen. der propagandafilm «theresienstadt, ein dokumentarfilm aus dem jüdischen siedlungsgebiet», von dem noch fragmente existieren, kann unter youtube angeschaut werden. «vieles in diesem roman ist erfunden...» steht im nachsatz, aber vieles hat sich wirklich auch so abgespielt. wir haben alle in den letzten jahrzehnten immer wieder über das dritte reich und den nationalsozialismus gelesen, gehört und gesehen: dieses buch lässt einen betroffen und bestürzt zurück.