17.04.2012

astrid rosenfeld: adams erbe

edward wird in einer von seiner grossmutter dominierten, etwas unruhigen und teilweise chaotischen jüdischen familie gross. immer wieder wird er damit konfrontiert, wie sehr er seinem grossonkel adam nicht nur äusserlich immer ähnlicher sehe, sondern auch seine art und sein wesen geerbt habe. das weckt seine neugier. wer war dieser bruder seines grossvaters, der einfach verschwunden ist und über den niemand in der familie wirklich spricht? nach dem tod der grossmutter entdeckt edward auf dem dachboden in der bibliothek seines grossvaters ein altes bisher ungeöffnetes paket, adressiert an eine anna guzlowski. beim oeffnen findet er darin einen stapel papiere: die von adam selbst aufgeschriebene recht abenteuerliche geschichte über seinen verbleib. das rätsel des damaligen spurlosen verschwindens klärt sich auf. und ganz zum schluss findet das paket auch den weg zu seiner ursprünglichen adressatin.
eine gleichzeitig tieftraurige und witzige geschichte, die das handeln und leben einzelner menschen in der zeit des dritten reiches und des zweiten weltkrieges beschreibt. eine geschichte ohne glückliches ende, die zeigt, wie weit jemand aus liebe gehen und was alles er auf sich nehmen kann.
faszinierend exakt sind die einzelnen figuren beschrieben, fesselnd ist die geniale handlungsführung. mit witz und ironie aber auch mit einer unerbittlichen ernsthaftigkeit wird das jüdische leben in verschiedenen facetten beschrieben. unter den nazis lernen wir menschen kennen, die verfolgten helfen, unmögliches möglich machen und sich selbst in gefahr bringen. und dann gibt es noch die polen, die zum widerstand gehören und beziehungen zum untergrund haben.
dieses so nahe zusammentreffen von so viel unmenschlichkeit und menschlichkeit macht das buch enorm ergreifend. die spannung nimmt von seite zu seite zu und im letzten drittel musste ich das buch ohne pause zu ende lesen.

12.04.2012

arno geiger: der alte könig in seinem exil

langsam, ganz langsam verliert der vater des autors den kontakt zu dieser welt und entwickelt eine demenzerkrankung. zunächst werden seine reaktionen von der familie als ein etwas seltsames verhalten eingeschätzt, dann wird aber langsam klar, worum es geht. die angehörigen teilen sich in die betreuung, später werden zusätzlich betreuerinnen eingestellt, auf die der vater sehr unterschiedlich reagiert.
ein sehr persönliches und offenes werk über die beziehung zwischen vater und sohn, die wegen der krankheit des vaters eine andere dimension erhält. liebevoll und einfühlsam, aber auch witzig und humorvoll werden ereignisse und begegnungen beschrieben. der sohn geht auf den vater zu, besucht ihn in seiner welt und lässt ihm seine wahrnehmungen indem er auf diese eingeht. nicht ein theoretischer oder wissenschaftlicher ansatz, sondern intuition und die persönliche beziehung sind erfolgreich. eine ausgezeichnet beobachtete und ebenso genau niedergeschriebene geschichte, die den vater die würde behalten lässt, die auf der letzten seite des buches noch nicht zu ende ist und die die weitere entwicklung – nicht ohne zuversicht – offen lässt.
für viele angehörige, die sich in einer solchen situation befinden, ein wichtiges buch, weil es einen nicht nur lehrt seinen gefühlen zu folgen, sondern auch die betreuung zu organisieren und selbst zeitweilig abstand zu nehmen, um das eigene leben weiterzuführen, ohne dabei ein schlechtes gewissen haben zu müssen. für mich schlicht etwas vom besten, was zu diesem thema je geschrieben wurde.

06.04.2012

jessica durlacher: der sohn

eigentlich eine ganz normale vierköpfige familie: mutter, vater, sohn und tochter leben in guten und wohlhabenden verhältnissen. doch bald passieren dinge, die das bisher stabile und vermeintlich sichere leben zu beeinflussen beginnen. die mutter wird beim joggen von einem mann beinahe vergewaltigt. der sohn meldet sich freiwillig zu den marines der us-armee. später wird die familie eines nachts von bewaffneten einbrechern heimgesucht. diese und andere vorerst isoliert dastehenden ereignisse haben alle mit der geschichte der jüdischen familie der mutter, deren grosseltern im konzentrationslager umgebracht worden waren, zu tun. in den während des zweiten weltkrieges besetzten niederlanden gab es kollaborateure, die versteckte juden und deren helfer denunzierten. die begegnung der nachkommen der damaligen täter und opfer führt zu unerwarteter selbstjustiz.
eine zunächst intime und sehr persönliche familiengeschichte, die sich immer mehr zu einem fesselnden krimi entwickelt. zu beginn ist das zentrale thema die grosse liebe und fürsorglichkeit der mutter für ihre kinder, die durch den für sie unverständlichen entscheid des sohnes zur armee zu gehen auf eine grosse probe gestellt wird. mit starken und berührenden worten beschreibt die autorin das auf und ab der gefühlslage der mutter, deren aengste und beinahe hingebungsvolle sorge um ihre kinder. ebenso anschaulich und authentisch beschreibt sie die zerstörung der sicherheit durch die einbrecher. das unvermögen, sich selbst und die familie zu schützen, hilflos den tätern ausgeliefert zu sein, hinterlässt ein ungeahntes gefühl der machtlosigkeit und verbreitet unrast. aber auch die sprachlosigkeit, die eine vergewaltigung auslöst, das unvermögen des opfers sich darüber zu äussern, die gefühle der scham und der schande und das daraus resultierende verschweigen auch gegenüber der polizei finden hier eine unvergleichlich genaue beschreibung.
selten habe ich einen roman gelesen, der diese schwierigen themen auf eine so eindringliche und phänomenale weise aufnimmt. eines der wenigen bücher, die ich nicht vor dem einschlafen lesen konnte, sondern nur in der sicherheit des tageslichtes.

01.04.2012

ulrich knellwolf: auftrag in tartu

als gastdozent an der theologischen fakultät in tartu trifft felix bruderer aus der schweiz nicht nur auf mehr oder weniger kritische kollegen, sondern auch auf viivi leim, die dekanatssekretärin, zu der er eine recht nahe beziehung entwickelt.
während seines aufenthaltes in estland steht die dozententätigkeit jedoch eher im hintergrund, seine vorlesungen finden in fast leeren hörsälen statt. viel mehr wird er verstrickt in tätigkeiten der russischen mafia und begegnet ehemaligen kgb-funktionären. beinahe alle figuren stehen zueinander in einer beziehung, einige von ihnen haben einen familiären bezug zur schweiz. zum schluss reist bruderer wieder nach hause und lässt viivi leim zurück.
auf verschiedenen zeitlichen ebenen wird man durch die geschichte geführt. nachkommen ausgewanderter schweizer, tschetschenische unabhängigkeitskämpfer, baltendeutsche barone, italienische adelige, preussische fürsten spielen grössere oder kleinere rollen, fiktive personen und historische persönlichkeiten begegnen sich. erst am ende löst sich alles auf und fügt sich zu einer abgeschlossenen und verständlichen geschichte. trotz der wiederholt etwas unklaren zusammenhänge und nicht abgeschlossenen handlungen gelingt es dem autor – dank der manchmal ans unwahrscheinliche grenzenden vorgänge – die spannung zu halten. die theologischen passagen fordern nicht-theologen immer wieder heraus, doch wer eine affinität zum baltikum hat, kommt voll auf die rechnung.
sehr hilfreich steht am schluss des buches das personenverzeichnis, das einen den ueberblick behalten lässt.