31.10.2015

charles lewinsky: kastelau

im winter 1944, wenige monate vor kriegsende, versucht jeder, der kann berlin zu verlassen und den bombardierungen zu entkommen. die dreharbeiten für einen ufa-film lassen sich auch in die bayrischen alpen verlagern, wo das leben noch einigermassen sicher ist. kastelau ist der ort, wohin die filmcrew flieht und monatelang filmaufnahmen spielt. filmmaterial ist schon lange keines mehr in der kamera, aber die fortlaufende arbeit ist die einzige gewähr, nicht zurück nach berlin zu müssen. die bevölkerung des dorfes steht den ankommenden zunächst kritisch gegenüber, aber in den letzten kriegstagen, wo nichts mehr wirklich gültigkeit hat, wo auf nichts mehr wirklich verlass ist, haben alle das gleiche ziel.

diese geschichte über schein und wirklichkeit, wahrheit und lügen, opportunismus und aufrichtigkeit ist aus vier perspektiven erzählt. die notizen des forschers, der jahre später der sache nachgeht, die interviews mit einer ueberlebenden, ein fragebogen mit den dazu gehörenden schriftlichen antworten des sohnes des damaligen bürgermeisters und die tagebucheinträge des drehbuchautors parallel einander gegenüber gestellt, zeigen deutlich, wie oft es nicht nur eine wahrnehmung, nur eine wahrheit gibt.

29.10.2015

édouard louis: das ende von eddy

«an meine kindheit habe ich keine einzige glückliche erinnerung», so beginnt das buch und die geschichte der kindheit von eddy bellegueule aus einem rückständigen nordfranzösischen dorf bestätigt dies. eddys vater ist arbeitslos und trinkt, seine mutter versucht die familie mit fünf kindern durchzubringen. vier zimmer hat ihr haus und vier fernseher, die permanent laufen. eddy merkt früh, dass er anders ist und anders empfindet als seine altersgenossen und wird bald als schwuler zum gespött im dorf, wird immer wieder von mitschülern geschlagen, hält das alles aus und denkt anfänglich, es müsse so sein. doch noch als jugendlicher gelingt ihm die flucht aus diesem milieu und eine neue perspektive tut sich auf.
mit diesem eindrücklichen und aufrüttelnden roman, der autobiografisch beeinflusst ist, führt uns der autor in eine welt, die wir hierzulande für kaum möglich halten. trotz der schlimmen kindheit behält er sich die liebe und zuneigung für seine mutter, die – wie er später erkennt – auch opfer dieser umstände ist.
ausschliesslich beschreibend, nie kommentierend oder wertend bleibt der autor beim thema, das einen berührt und nachdenklich stimmt. eines der eindrücklichsten bücher, die ich in den letzten jahren gelesen habe.

21.10.2015

dominique bernet: das gesicht

der roman spielt in der zweiten hälfte des 18. jahrhunderts. im zürcher grossmünster wird zum von tausendzweihundert menschen besuchten bettagsgottesdienst der abendmahlswein vergiftet. der pfarrer lavater will im sinne der gerechtigkeit selbst dem täter auf die spur kommen. sein zögling jakob hat das gleiche ziel, der grund ist aber ein anderer, er will die zuneigung der tochter des sigristen erringen.
eine art krimi aus einer zeit, als die menschen noch schnell bereit waren, jemanden zu verketzern und damit an den galgen zu bringen.

16.10.2015

sofka zinovieff: athen, paradiesstrasse

antigone, die überzeugte kommunistin, lebt in moskau und entschliesst sich nach bald sechzig jahren wegen des todes ihres einzigen sohnes nikitas noch einmal nach athen zu reisen. es kommt nicht nur zur begegnung mit ihrer schwester alexandra, die ihr feindlich gesinnt ist, sondern es tut sich eine weitgespannte familiengeschichte auf. während der zeit des zweiten weltkrieges, des bürgerkrieges, der nachkriegszeit und der schweren zeit während der macht der militärjunta bleibt das haus in der paradiesstrasse das zentrum der familie und wird in unterschiedlichen konstellationen bewohnt.
ein spannender, teilweise fiktiver roman aus der sicht von maud, der frau, antigone, der mutter und tig, der tochter von nikitas, der das schwierige leben vor dem hintergrund wechselnder politischer verhältnisse in griechenland darstellt und damit gleichzeitig ein stück geschichtsunterricht ist.