30.06.2016

wytske versteeg: boy

die ich-erzählerin und deren ehemann adoptieren boy, einen jungen aus afrika. boy ist ein introvertiertes kind, das sich immer mehr zurückzieht und für die eltern immer weniger erreichbar ist. eines tages verschwindet er ganz. die von der polizei überbrachte todesnachricht lässt viele fragen offen und die mutter geht selbst auf die suche nach der wirklichkeit. sie trifft eine lehrerin, die als einzige einen zugang zu ihrem sohn gehabt zu haben scheint.
eine eindringlich erzählte geschichte über verpasste gelegenheiten, fehler und unverständnis. alle wollten das beste und nichts ist letztlich geglückt. der eigentlich zu beginn schon feststehende tod, ergreift einen am schluss, wo die umstände detailliert erzählt werden, ganz heftig.
ein buch, das man kaum weglegen kann und das man nicht so schnell vergisst.

26.06.2016

saša stanišić: vor dem fest

ein kaleidoskop von geschichten, archivberichten und aktuellen menschlichen schicksalen, das nicht nur fürstenfelde in brandenburg sondern viele andere orte auch beschreiben könnte. die vergangenheit unter den verschiedenen politischen systemen hat noch heute einfluss auf die beziehungen der menschen und das zusammenleben dieser dorfgemeinschaft. wie ein puzzle setzen die einzelnen kapitel ein bild zusammen. was tut sich da nicht alles am vorabend des jährlich stattfindenden annenfestes?
ein spannendes soziogramm einer durchschnittlichen dorfgemeinschaft, gezeichnet mit charme, witz und viel fantasie, in dem zwischen den zeilen ab und zu auch versteckter sarkasmus aufblitzt.
sprachlich anspruchsvoll, nach ein paar kapiteln aber trotzdem leicht und gut zu lesen.

12.06.2016

eve harris: die hochzeit der chani kaufman

die intelligente und eigenwillige chani ist an der reihe verheiratet zu werden. baruch levy, sohn wohlhabender orthodoxer eltern, hat ein auge auf sie geworfen und will sie zur frau. nur so einfach geht das nicht, schliesslich werden ehen arrangiert und die eltern haben ein gewichtiges wort mitzureden. parallel dazu erfahren wir, wie rebecca, die frau des rabbiners ihr freies leben zugunsten der strengen orthodoxie aufgegeben hat. und dann ist da noch avromi, rebeccas sohn, dessen erste und grosse liebe eine nichtjüdische mulattin ist, was ihn in schwere konflikte stürzt.
während chani und baruch sich am ende des buches finden und eine gemeinsame zukunft vor sich sehen, müssen die anderen schwere entscheidungen treffen.
mit unendlich viel witz und komik schreibt die autorin über diese religiöse welt inmitten von london und den anfechtungen des grossstadtlebens. vertraut mit den religiösen festen und ritualen zeichnet sie detailgetreu die figuren in ihren alltäglichen handlungen und konflikten nach. dazu kommt die fotografisch genaue beschreibung von kleidern und anderen aeusserlichkeiten. dies alles zusammen gibt einen dichten roman, der mit seiner bandbreite von tragik und glück einen manchmal zu tränen rührt und einen wieder laut herauslachen lässt.

05.06.2016

ismail kadare: spiritus

dem geheimdienstchef kommt die neue lieferung von modernen abhörgeräten gerade recht. endlich scheint die totale ueberwachung des volkes möglich. die wanzen sind so klein, dass sie in kleidungsstücke eingenäht werden können. als einer der abgehörten von einem bulldozer überfahren wird und – da es nicht mehr anders geht – mit seinen kleidern eingesargt wird, geht auch eine der wanzen mit ins grab. die später wegen des verdachtes staatsfeindlicher umtriebe angeordnete exhumierung bringt die wanze wieder zum vorschein und damit neue probleme. was macht man in einem solchen system in dieser situation?
eine spannende, zeitweise ans absurde grenzende satire, die einen beim lesen nicht mehr loslässt. die treffende beschreibung der figuren, die handlungsverläufe, die man sich trotz ihrer abstrusität sehr real vorstellen kann und die originellen schauplätze sind der hintergrund, vor dem die protagonisten in einem totalitären system versuchen zu überleben. misstrauen und unsicherheiten prägen den alltag. trotz tragik und grossen schwierigkeiten bleibt viel humor und situationskomik. weise und abgeklärt beschreibt der autor dieses leben. ja, so muss es gewesen sein im damaligen albanien, anders kann ich es mir nicht vorstellen.