23.01.2021

antonio dal masetto: als wärs ein fremdes land

mitte des 20. jahrhunderts wandert agata nach argentinien aus, wo sie über vierzig jahre mit ihrer familie lebt. eines tages erklärt sie – mittlerweile 80-jährig – ihre absicht nach italien zu fahren, um noch einmal das dorf ihrer jugend zu besuchen. sie trifft zwar auf viel bekanntes, aber italien ist ein land, das nicht mehr das ihre ist. die gesellschaft hat sich sehr verändert, die werte sind nicht mehr die gleichen.
das buch enthält eine schön und ruhig erzählte geschichte. die übersichtliche handlungsführung bringt uns die etwas abenteuerliche reise und das beinahe unwahrscheinliche glück agatas nahe. die alte frau sucht eckpunkte in ihrer erinnerung und erfährt, was verschwunden und was neu entstanden ist. sie beobachtet ohne zu kommentieren und zu werten und trotzdem spürt man ihre gefühle, ihre freuden und ihre enttäuschungen. einzig das offene ende lässt einen etwas ratlos zurück.

17.01.2021

yusuf yeşilöz: der gast aus dem ofenrohr

er kommt als kurdischer flüchtling in die schweiz, trifft hier als erstes auf einen landsmann, der schon länger hier lebt und ihn in der nähe der grenze abholt. am nächsten tag stellt er einen asylantrag und lebt nun mit anderen männern, die in der gleichen lage sind, in einer entsprechenden unterkunft. sie reden über ihre heimat, über ihre dörfer und ihr brauchtum, das so anders ist. seine drei ersten arbeitsversuche sind schon gescheitert. die geschichte endet, als er auf dem weg zum vierten ist.
mit verhaltenem humor betrachtet der autor als fremder das leben und die gebräuche hierzulande. wegen der fremden sprache versteht er zu beginn kaum etwas, was zu fehleinschätzungen und miss­verständnissen führt. er beobachtet auch seine mitbewohner genau und realisiert, wie unterschiedlich sie mit ihrer neuen situation umgehen. sehr differenziert und ohne zu werten berichtet er über seinen alltag, sein befinden und seine wünsche. ein schönes buch, das auf eine ganz besondere art und weise zur diskussion um flüchtlinge beiträgt.

15.01.2021

urs augstburger: das dorf der nichtschwimmer

kurz vor merets geburt kehrt ihr vater vinzenz von einer bergtour nicht mehr zurück und wird seither vermisst. 36 jahre später gibt der schmelzende gletscher seine leiche frei. sie hat ihren vater nicht gekannt, reist aber zu seiner beerdigung ins bergdorf. hier trifft meret auf niculan, sohn einer eingesessenen familie. ihre beiden grossväter waren schüler in der dortigen klosterschule und damals eng befreundet, bis ein betrug sie trennte. auch ihre beiden väter waren freunde bis zu vinzenz' bergtod. meret und niculan finden schnell gefallen aneinander und werden ein paar. immer mehr werden ihnen die verflechtungen und beziehungen ihrer beiden familien klar.
das buch ist ein richtiges bergdrama mit allem, was dazugehört: mystik, aberglaube und gefahren in schnee und eis, die einen beim lesen frieren lassen. errungenschaften der moderne treffen hier immer wieder auf traditionelle wertehaltungen. dies fasziniert, wenngleich es manchmal etwas plakativ daherkommt. die etwas utopische und zeitweise phantasievoll unrealistische handlung dramatisiert die geschichte auf eine spannende weise. geschickt wechselt der autor zwischen den zeiten und generationen hin und her, so dass man beim lesen mühelos den ueberblick behält.

08.01.2021

lukas linder: der unvollendete

anatol ist schon mitte dreissig er hat zwar ein abgeschlossenes studium, arbeitet aber in einem pflegeheim als allrounder. auch seine schriftstellerischen versuche führen nicht zum erfolg und mit den frauen ist es auch schwierig. als er gefragt wird, ob er an einem kongress in polen stellvertretend einen vortrag über das netzwerk der pilze halten könnte, sagt er zu. und er beschliesst dort zu bleiben und einen neuanfang zu versuchen.
es ist nicht die etwas spezielle lebensgeschichte von anatol und es ist nicht die handlung, die dieses buch wirklich lesenswert machen. es sind vielmehr der abenteuerliche witz und die einzigartige sprachliche virtuosität, mit der die geschichte geschrieben ist. wunderbar komplexe sätze voll stilistischer und grammatikalischer raffinesse bieten einen beinahe nicht zu übertreffenden lesegenuss.