26.05.2021

colum mc cann: apeirogon

der israeli rami und der palästinenser bassam sind zwei männer mit sehr ähnlichen erfahrungen: beide haben eine tochter verloren. ramis tochter smadar wurde bei einem selbstmordattentat in den strassen tel avivs getötet, bassams tochter abir wurde vor ihrer schule von einem israelischen grenzsoldaten erschossen. beide väter kommen nur schwer über den verlust ihrer töchter hinweg. sie lernen sich in einer kontaktgruppe kennen, in der sich betroffene eltern unabhängig von herkunft, nationalität und religion zum gemeinsamen gespräch treffen. sie wollen diese grenzen überwinden, arbeiten gegen diese politik, die ihnen ihre kinder genommen hat und für eine gemeinsame zukunft in frieden. die geschichte von rami und bassam ist wahr: die beiden sind freunde und brüder geworden.
die mitte des buches bilden die lebensgeschichten der beiden männer. vor und nach diesen beiden kapiteln stehen je 500 texte, textfragmente und bilder, die von ereignissen, gegebenheiten, schicksalen berichten und damit die realität und den wahnsinn des palästinakonflikts illustrieren. neben den schwierigkeiten im alltag, werden nicht nur eklatante unterschiede klar, sondern auch wie wenig die meisten palästinenser und israeli vom leben der anderen wirklich wissen. die portraits von menschen, die trotz all des leids an die möglichkeit eines einträchtigen miteinander glauben und ihr überzeugter und aus tiefen herzen kommender einsatz dafür, berühren sehr stark. ein fesselndes stück literatur, das direkt und eindringlich über menschen berichtet, die ihren schmerz durch hoffnung zu ersetzen suchen und das derzeit aktueller nicht sein könnte – ein buch für unsere welt.


18.05.2021

uwe tellkamp: der eisvogel

wiggo ritter, sohn aus einem begüterten elternhaus, hat seine akademische karriere verpatzt. er verdient sich sein leben mit zufälligen gelegenheitsjobs und hat eher unstete beziehungen. der versuch seines vaters, ihn bei seiner bank unterzubringen, scheitert ebenso. in dieser etwas ausweglosen lage lernt er das geschwisterpaar mauritz und manuela kennen, mitglieder einer im hintergrund agierenden konservativen organisation, die auch mit terroristischen mitteln ihre leute an die macht zu bringen sucht. für wiggo eine neue perspektive, doch er verliebt sich in manuela, was zur gefahr für die gesamte unternehmung zu werden droht.
das buch beginnt im spital, wo der zum mörder gewordene wiggo nach einer terroristischen aktion schwer verletzt liegt. diese geschichte wird aus seiner perspektive erzählt, während wir aus der sicht von einigen beteiligten verwandten und freunden eine aussensicht auf die geschehnisse erfahren. am anfang hatte ich schwierigkeiten, mich im komplexen handlungsverlauf zurecht zu finden, doch mit der zeit wurde der in einer dichten sprache geschriebene roman immer brisanter und aktueller.


11.05.2021

fabio andina: tage mit felice

felice ist ein alter mann, der ein bescheidenes leben als selbstversorger in seinem haus führt. jeweils früh morgens in der dunkelheit macht er sich auf, um oben im wald in einem wasserloch zu baden. tagsüber hilft er anderen leuten im dorf, besucht hin und wieder die bar oder fährt mit seinem alten auto hinunter ins tal. als er aber ein weiteres bett in sein haus stellt, finden gerüchte und vermutungen nahrung. niemand weiss genaues, aber man nimmt an, seine frau, die ihn vor vielen jahren verlassen hat, komme zurück.
der autor erzählt die geschichte dieses mannes aus der optik eines begleiters. er verbringt einige tage mit ihm, teilt seinen alltag und schildert das leben in diesen weilern am hang des bleniotales. er zeichnet die einzelnen menschen, die hier leben, ihre beziehungen untereinander, aber auch die einflüsse von aussen, die abwanderung der jugend, das zurückbleiben der alten und den zerfall von unbewohnten häusern weder beschönigend noch romantisierend. dieses ruhige buch ist einfach wundervoll zu lesen und weckt irgendwie eine gewisse sehnsucht nach diesem leben.

01.05.2021

nicolas mathieu: wie später ihre kinder

in einer kleinen stadt in lothringen ist nicht mehr viel los. das stahlwerk, der einzige grosse arbeitgeber, ist seit jahren stillgelegt, viele sind arbeitslos, es gibt wenig perspektiven. hier leben der 14-jährige anthony und sein cousin. sein zuhause ist von armut, alkohol und gewalt geprägt. an einem heissen sommernachmittag fahren die beiden mit einem gestohlenen kanu über den see zu einem entlegenen strand. dort trifft anthony zum ersten mal auf steph, tochter wohlhabender eltern, und verliebt sich in sie. steph geht ihm über jahre, bis er erwachsen ist, nicht mehr aus dem sinn. auch wenn sie sich hin und wieder treffen, es kann nicht wirklich etwas werden.
eine geschichte, die im hintergrund der handlung kaum etwas auslässt, was dieser industrielle niedergang nach sich zieht. nicht nur die aus dem süden zugewanderten fabrikarbeiter werden arbeitslos, sondern auch die menschen, die sich im unteren mittelstand wähnten, stürzen ab in prekäre lebensumstände. die jugendlichen, immer wieder von hoffnung und illusionen geleitet, werden bitter enttäuscht und bleiben abgehängt. von diesem genau beobachteten und beschriebenen milieu und den menschen, die darin leben, berichtet dieses buch eindrücklich ungeschminkt und birgt ein brisantes zeitdokument sozialer ver­hält­nisse.