25.07.2021

nino haratischwili: mein sanfter zwilling

ivo und stella werden – ohne blutsverwandt zu sein – wie bruder und schwester in der gleichen familie gross. früh in ihrer kindheit entwickeln sie eine leidenschaftliche liebe zueinander; sie können nicht ohne einander sein. inzwischen sind sie mitte dreissig, stella ist verheiratet mit mark und hat einen sohn. als ivo nach sieben jahren abwesenheit zurückkommt, bringt dies stellas wohlgeordnetes leben durcheinander. eine schuld aus frühen kindertagen lastet auf den beiden. sie gehen den damaligen ereignissen nach. schritt für schritt kommen sie einer komplizierten familiengeschichte auf die spur.
die liebe zweier geschwister, die des inzests verdächtigt werden, und die schwierigen beziehungsverhältnisse in einer patch-work-familie sind die zentralen themen des romans. die komplexe handlungsführung mit zeitsprüngen ist manchmal etwas unübersichtlich, was die gefahr birgt, dass man beim lesen die orientierung verlieren kann. der unterschied der beiden hauptprotagonisten lässt ein beinahe ungerechtes gefälle und eine einseitige abhängigkeit durchscheinen. auch wenn das buch nicht durchgehend spannend ist, enthält es eine geniale geschichte.

18.07.2021

yael inokai: mahlstrom

an der beerdigung von barbara, die sich als junge frau das leben genommen hat, sind auch alle versammelt, die gemeinsam mit ihr zur schule gegangen sind, nur yann fehlt. seine abwesenheit wirft das licht auf eine unschöne vergangenheit. yann, der ein zugezogener war und immer ein aussenseiter blieb, wurde damals das opfer: er musste unter mobbing und gewalt leiden. auch adam, der eigentlich in yann verliebt war, wurde zum täter. alle daran beteiligten beginnen sich mehr oder weniger freiwillig ihren taten zu stellen. aus der perspektive der einzelnen werden kapitel für kapitel diese ereignisse aufgerollt.
ganz unauffällig und ruhig fängt der roman mit dieser trauerfeier an und erzählt dann immer stärker und eindringlicher diese dorfjugendgeschichte, die in ein offenes ende mündet. in einer schönen und reichen sprache berichtet die autorin über ein phänomen, das sich an vielen orten immer wieder ereignet, über das wenig gesprochen wird, und setzt damit den unbeachteten opfern ein denkmal.

14.07.2021

ayelet gundar-goshen: lügnerin

als nuphar, die eisverkäuferin, von einem kunden aufs uebelste beleidigt wird, verlässt sie ihren stand. er folgt ihr und attackiert sie weiter verbal. sie beginnt zu schreien, die leute laufen zusammen und plötzlich richten sich alle blicke auf sie, die sonst immer im schatten ihrer schönen schwester steht. schnell macht das gerücht eines sexuellen uebergriffes die runde und als eine polizistin sie einvernimmt, korrigiert sie diese unwahrheit nicht. eine kleine lüge beginnt wirkung zu zeigen, denn der täter ist ein prominenter sänger. nuphar wird als opfer in der boulevardpresse bedauert und zu fernsehshows eingeladen. dem vermeintlichen täter droht eine hohe gefängnisstrafe, was nuphars gerechtigkeitssinn weckt. wie kommt sie wieder aus dieser geschichte heraus?
der roman befasst sich, das kennen wir alle, mit den kleinen unwahrheiten und missverständnissen, die zu korrigieren wir hin und wieder unterlassen. die beschreibung der emotionen und gefühle sind zwar treffend, allzu tiefgründig ist der text jedoch nicht und er hat auch immer wieder längen. die personen bleiben trotz vieler und auch detaillierter beschreibung etwas blass und das ende kommt etwas schnell und wirkt unvollständig. aber alles in allem ist das buch leicht zu lesen, unterhaltend und zeitweise auch lustig.

07.07.2021

philip roth: gegenleben

nathan und henry sind brüder, der religion eher fern stehende juden, die in new jersey leben. henry, der zahnarzt, ist verheiratet und hat drei kinder, nathan ist schriftsteller. einer der beiden erleidet einen herzinfarkt und muss danach mit medikamenten behandelt werden, die als nebenwirkung massive potenzstörungen mit sich bringen. nur eine lebensgefährliche operation kann ihn von diesen medikamenten befreien. die frage stellt sich, ob er sein leben riskieren soll.
die fünf kapitel des buches pendeln zwischen realität und fiktion. sie beziehen sich gegenseitig aufeinander, letztlich bleibt aber unklar, welcher der beiden männer der betroffene ist. teils aus der optik des beobachtenden autors, teils aus der sicht des betroffenen lässt sich nie ganz ausmachen, was nun wirklich ist. lange diskussionen über tod, sexuelle potenz, mann-sein und judentum sind nicht nur die zentralen motive dieser komplexen geschichte, sondern ergeben auch eine abenteuerliche mischung, die den roman etwas überladen daherkommen lässt. interessant ist die auseinandersetzung eines juden mit seiner religion, der wenig bis kaum in dieser tradition verhaftet ist. das wahrscheinlich autobiografische züge tragende buch ist anspruchsvoll und hat mir einiges abgefordert.