kein schöner ort: eine grosse
fabrikzone, die luft ist belastet, im winter fällt industrieschnee.
hierher kommt die erzählerin nach einem hochschulstudium zurück zu
besuch in das dorf, in dem sie als kind gross geworden ist. sie
erinnert sich an das leben in dieser arbeiterwohnung. die mutter ist
früh verstorben, der vater ist einer, der nichts wegwerfen kann. nach einem schulabbruch holt sie erst viel später an einer abendschule das
gymnasium nach. sie trifft wieder auf ihre ehemaligen
mitschüler, die einen anderen gesellschaftlichen hintergrund haben,
deren bildungsweg deshalb wesentlich direkter verlaufen ist.
wie noch heute arbeiterkinder und
kinder aus migrationsfamilien trotz vielgepriesener chancengleichheit
es unheimlich viel schwerer haben, gerecht und richtig wahrgenommen
zu werden, dies ist da zentrale thema des buches. mit einer
feinfühligen, exakten beschreibung bringt die autorin uns das thema
nahe. vorurteile und soziales gefälle lösen früh eigene zweifel
aus und stören das selbstbewusstsein. exemplarisch wird aufgezeigt,
wie angst davor, sich in der welt ausserhalb der eigenen erfahrungen
nicht bewegen zu können, für betroffene zu einer grossen
anstrengung wird. damit liefert dieser vielschichtige roman das bild
einer realität, die immer wieder ignoriert wird.
31.01.2022
deniz ohde: streulicht
23.01.2022
édouard louis: die freiheit einer frau
die mutter des autors wird mit 16
jahren bereits schwanger. von ihren träumen eines besseren lebens
bleibt nichts: sie heiratet den vater des kindes, einen gewalttätigen
alkoholiker. nach der trennung, trifft sie einen neuen mann, das
beziehungsmuster wiederholt sich. erst viel später verlässt sie
auch diesen und – mit einem schlechten gewissen – ihre inzwischen
erwachsenen jüngsten kinder. als édouard seine mutter trifft, ist
sie völlig verwandelt, um jahre jünger aussehend macht sie einen
glücklichen eindruck. aus der perspektive des sohns beschreibt der
autor, wie er sich als kind eine andere mutter gewünscht hatte, wie
auch er sie beleidigte und er in seiner jugend unter diesen umständen
litt.
ein eindringliches, ehrliches buch, das
nicht nur die beziehung zu seiner mutter, sondern auch die abgründe
und auswirkungen der sozialen unterschiede in der gesellschaft
beleuchten. beeindruckend ungeschönt, aber auch emotional wird hier
über eine frau berichtet, die lange zeit brauchte, zu sich selbst zu
finden, bis sie den mutigen schritt zur eigenen befreiung wagte. ein
werk das hoffnung macht.
21.01.2022
hannes köhler: in spuren
felix und jakob sind seit ihrer
kindheit beste freunde, gemeinsam gross geworden sind sie wie brüder.
aber eines tages verschwindet felix und ist nicht mehr erreichbar: er
wird vermisst. in seiner wohnung findet jakob ein tagebuch und den
computer. er beginnt darin zu lesen und nach dem grund von felix'
verschwinden zu suchen. die freundinnen der beiden männer können
mit all diesen veränderungen schlecht umgehen, es kommt zu gewalt
und trennungen. jakob fragt sich immer mehr, was er wirklich von
felix weiss. je fremder dieser ihm wird, umso mehr beginnt er in sein
leben einzudringen.
ein geglückter ansatz zu dem
spannenden thema: wie gut kennen wir unsere besten freunde? fragen
der identität stellen sich ebenso, wie solche nach
zukunftsperspektiven, sinn des lebens oder dem umgang mit einem
plötzlichen verlust. stark und markant ist die darstellung der
unterschiedlichen, teils hilflosen reaktionen der einzelnen personen.
trotz der tiefgründigkeit des themas ein leicht zu lesender
fesselnder text.
12.01.2022
tomasz jedrowski: im wasser sind wir schwerelos
ludwik und janusz begegnen sich bei
einem ernteeinsatz. nach dessen ende verbringen sie eine traumhafte
zeit an einem see in masuren, entdecken ihre liebe und werden eins.
aber in polen um 1980 muss diese beziehung ein geheimnis bleiben und
wird – zurück in warschau – auf harte proben gestellt. im umfeld
von hannia und maksio, einem geschwisterpaar, dessen vater ein hoher
funktionär ist, tut sich eine neue verlockende welt auf: vieles
scheint möglich zu werden. aber ludwik will sich selbst treu bleiben
und ein leben ohne kompromisse führen: er träumt davon das land zu
verlassen. janusz kann sich ein leben irgendwo sonst nicht vorstellen
und versucht sich mit dem herrschenden system zu arrangieren. so
steht ludwik immer mehr vor dem entscheid, sich treu zu bleiben und
seinen eigenen idealen zu folgen oder sie für seine liebe
aufzugeben.
eine mehrschichtige handlung, die sich
nicht nur um die liebe der beiden männer dreht, sondern ebenso das
funktionieren des damaligen kommunistischen systems darstellt, das
wenigen privilegien, vielen aber armut und abhängigkeit beschert.
beeindruckend realistisch sind die schilderungen der momente von
repression und einem system, in dem beziehungen zu einflussreichen
leuten beinahe überlebenswichtig werden. sehr emotional, extrem
berührend und nie kitschig schreibt der autor in einer wunderbaren,
sehr subtilen sprache die geschichte, die sowohl dramatisch aber auch
sehr philosophisch ist. der text findet im harten alltag und der
brutalen realität immer wieder zurück zu der aufkeimenden liebe,
den träumen und sehnsüchten der beiden. alle figuren – auch die
in nebenrollen auftretenden – sind mit wenigen worten
charakteristisch genau beschrieben. sie machen einen weiteren
reichtum dieses buches aus. mich hat der roman auch so extrem
berührt, weil er immer wieder ereignisse und gefühle aus meiner
eigenen jugend an die oberfläche schwemmte. jedes kapitel habe ich
zweimal gelesen um den genuss möglichst lange zu haben und den
schluss weit hinauszuschieben.
04.01.2022
benjamin myers: offene see
roberts obligatorische schulpflicht
endet. in seinem heimatort, der von einem kohlebergwerk dominiert wird,
ist seine berufliche zukunft vorbestimmt: untertagearbeit als
bergmann, so wie sein vater und sein grossvater. für den licht und
natur liebenden robert ist dies eine schwierige vorstellung. zuvor
will er das meer sehen und macht sich auf zu einer wanderung an die
küste. als er unterwegs dulcie, eine starke und unkonventionelle
frau, kennenlernt, eröffnet sich ihm eine neue welt, in der kunst
und literatur einen wichtigen platz einnehmen. langsam erfährt er
auch die geheimnisvolle lebensgeschichte von dulcie.
das erwachsenwerden, der abschied von
einem vorgegebenen leben, die erfüllung der träume eines
jugendlichen stehen der realität einer älteren frau, ihrem
pragmatismus und ihrer weisheit gegenüber. wie die beiden hier
aufeinandertreffen und sich gegenseitig viel geben können, ist
exzellent beschrieben. eine philosophische tiefe begleitet und stärkt
die handlung auf eine art, dass das buch leicht zu lesen ist und viel
freude macht.