27.07.2023

simon froehling: dürrst

künstlerische erfolge, intensive liebesbeziehungen, klinikaufenthalte und leben in verschiedenen städten prägen dürrsts junges leben. als sohn aus wohlhabendem, bürgerlichem haus überwirft er sich schon früh mit seinen eltern, die ihm immer viel weniger nah waren, als barbarella, die haushälterin. bei ihr fühlt er sich schon als kind verstanden. er führt ein schwieriges leben zwischen psychischen hochs und tiefs, die seine bipolare erkrankung mit sich bringen. immer wieder kann man seine einsamkeit erahnen, obwohl er sich auf einige freunde verlassen kann.
der einblick in das leben eines manisch-depressiven menschen ist sehr berührend. mit einer realistischen beschreibung von gefühlen und zuständen aus einer aussenperspektive vermittelt er, welchen einfluss die krankheit auf seinen alltag und seine lebensperspektiven nimmt. surreal hedonistische momente wechseln mit abgrundtiefen verzweiflungen. spannend, wenngleich auch manchmal irritierend sind die immer wieder unvermittelt wechselnden zeitebenen der erzählung. rasant geschrieben und gut lesbar hinterlässt dieses autobiografische buch eine bleibende erinnerung.

20.07.2023

jonas lüscher: frühling der barbaren

der fabrikbesitzer preisig wird in tunesien an die hochzeit reicher junger engländer eingeladen. ein luxushotel in einer wüstenoase ist der schauplatz dieses opulenten festes. aber während dieser nacht wird der englische staat zahlungsunfähig – das pfund verliert rasant an wert und alle kreditkarten englischer banken werden gesperrt. ein böses erwachen am anderen morgen: die zuvor noch unbeschwerten jungen reichen stehen ohne geld und arbeit da. diese ausnahmesituation lässt die menschen sehr unterschiedlich reagieren und teilweise zu barbaren werden.
in einer virtuosen sprache erzählt der autor nicht nur eine in der heutigen zeit durchaus mögliche geschichte, er zeigt auch abgründe menschlichen verhaltens auf. gegen schluss übersteigt die handlung aber immer mehr die realität. ganz besonders sind die langen, verschachtelten sätze, in denen er grammatikalische uns stilistische möglichkeiten der deutschen sprache bis aufs äusserste ausreizt. und trotzdem ist der ganze text recht gut zu lesen. ein wirklich gekonntes kleines werk, das auf nur 120 seiten eine ganz eigene faszination auslöst.

11.07.2023

ilmar taska: probeda 1946

kurz nach ende des zweiten weltkrieges werden die vorher unabhängigen baltischen staaten teil der sowjetunion. der russische geheimdienst macht erbarmungslos jagd auf menschen, die sich für die unabhängigkeit einsetzen. in tallin lebt die familie eines widerstandskämpfers bisher unbehelligt von der neuen staatsmacht. der vater versteckt sich seit zwei jahren zuhause. sein kleiner sohn weiss nicht viel von diesen umständen. als er die einladung eines fremden mannes annimmt in dessen schönes auto zu steigen, gerät er in die fänge eines geheimdienstagenten, der ihn wie beiläufig ausfragt. unwissentlich verrät er so seinen vater, der bald abgeholt wird. als auch seine mutter verschwindet, lebt er bei deren halbschwester, die aber ausreisepläne hat und ihn letztlich alleine zurücklassen muss.
eine unschöne geschichte wird hier wunderbar exakt und schön erzählt. die schilderung des lebens in estland nach dem krieg, geprägt durch die einführung einer sozialistischen gesellschaftsordnung, lässt einen ahnen, wie schwierig die situation damals war. die vorsichtig verschlüsselte kommunikation der menschen, der unabhängigkeitswille eines volkes und das unmenschliche, totalitäre system unter stalin kommen in diesem buch treffend zur sprache. der autor beschreibt dramatisch und akribisch genau, wie bereits ein junge instrumentalisiert wird. kraftvoll zeigt er die ereignisse aus dem blickwinkel eines kindes auf. der schon von beginn an spannende roman nimmt immer mehr an fahrt auf gegen ende konnte ich das buch kaum noch weglegen.

05.07.2023

robert seethaler: das café ohne namen

nach einer nicht einfachen kindheit ohne eltern beginnt der junge simon mit gelegenheitsarbeiten auf dem karmelitermarkt in wien. er wohnt in einem zimmer bei einer kriegswitwe und ist zufrieden mit seinem leben. als er von einer leerstehenden gastwirtschaft erfährt, lässt er sich von der aufbruchstimmung in den 1960er-jahren mitreissen und pachtet das lokal. er beginnt ein café nach seinen vorstellungen zu führen. bald hat er eine grosse stammkundschaft, für viele wird das lokal zu einer art heimat, wo gegessen, getrunken, gestritten, geliebt und geträumt wird.
es ist ein weiteres schönes buch von robert seethaler, in dem er nicht nur die stimmung im nachkriegs-wien treffend ausleuchtet, sondern auch meisterhaft sorgen und freuden von menschen beschreibt, die nicht immer auf der sonnenseite des lebens stehen. die einzelschicksale berichten aus dem alltag der sogenannt kleinen leute, die ihr leben trotz vieler widrigkeiten zu meistern verstehen. Die bildhafte darstellung der einzelnen figuren trägt ihr übriges dazu bei. ein roman, dessen unkomplizierte direktheit sehr emotional bewegt und eine grosse lesefreude auslöst.