18.09.2023

daniel de roulet: zehn unbekümmerte anarchistinnen

als bakunin mitte des 19. jahrhunderts in saint-imier weilt, lassen sich verschiedene junge uhren­arbeiterinnen von seinen reden anstecken. zehn von ihnen fassen den plan von hier wegzugehen, um in der neuen welt einen ort zu finden, an dem sie diese ideale der anarchie verwirklichen können. zwei von ihnen gehen voraus, erleiden aber bald einen gewaltsamen tod. die anderen lassen sich dadurch aber nicht von ihren plänen abbringen. während der mühevollen ueberfahrt nach südamerika stirbt eine von ihnen, so sind sie nur noch sieben. in punta arenas, ganz im süden chiles beginnen sie sich dieses neue leben aufzubauen, werden erfolgreich mit einer bäckerei und einer uhrmacherwerkstatt. sie trotzen allen widrigkeiten, nehmen sich das recht zu ihrer freiheit in einer noch jungen gesellschaft, die von männlicher machtdominanz geprägt ist. aber immer wieder verlieren sie eine der mitstreiterinnen, bis zum schluss nur die erzählerin übrigbleibt.
auf der basis von historischen gegebenheiten und fiktiven ereignissen wird schweizerische auswanderungsgeschichte erzählt. wunderbar sind die einzelnen personen gezeichnet, ihre wünsche, träume und realität. das spannungsfeld, in dem diese frauen handeln, fasziniert ebenso wie ihre gegenseitige toleranz und unverbrüchliche solidarität. so kommt man ihnen beim lesen sehr nahe. der unterhaltsame charakter des textes tut seiner ernsthaftigkeit keinen abbruch.

16.09.2023

margrit cantieni: 1941, liebe in herzlosen zeiten

als marek und sophia sich zum ersten mal treffen, ist es die liebe auf den ersten blick. aber es ist nicht einfach, denn marek ist ein internierter polnischer soldat und beziehungen zu einheimischen frauen werden nicht gerne gesehen. trotzdem treffen sie sich immer wieder. sophia wird schwanger, was zu weiteren schwierigkeiten führt. als liebevoller vater nimmt marek jede möglichkeit wahr, mutter und tochter zu sehen. aber er hat auch heimweh nach seinem land und seiner familie. dazu kommt, dass für solche paare ein amtliches heiratsverbot gilt.
ein sehr schönes und emotionales buch, das die spannung vom anfang bis zum schluss hält. vor dem hintergrund eines stücks schwieriger, wenig bekannter und nicht gerade rühmlicher geschichte der schweiz entfaltet sich das persönliche schicksal zweier junger menschen. die beschreibung der lebensumstände, der damaligen verhältnisse und der emotionen faszinieren beim lesen immer wieder. ganz auf der seite des paares stehend, teilt man leid und freude, schwankt dauernd zwischen hoffnung und verzweiflung. menschlichkeit und unmenschlichkeit stehen einander immer wieder gegenüber. ein richtig eindringlicher roman – der einmal begonnen – einen richtigen sog entfaltet.

12.09.2023

irina kilimnik: sommer in odessa

olga lebt in einem frauenhaushalt. einziger mann ist ihr grossvater, ein patriarch, um den sich alles dreht. ihre mutter und ihre beiden tanten sind ihm stets zu diensten und halten seine launen aus. olga studiert nicht ganz freiwillig medizin. mit ihrem mitstudenten radj lässt sich der universitätsbetrieb aber aushalten. das schwankende, etwas unstabile verhältnis zu ihrer besten freundin mascha erlaubt es ihr nicht immer, sorgen mit ihr zu teilen. alles geht seinen gang, bis eines tages david, ein jugendfreund des grossvaters aus amerika zu besuch kommt. olga entdeckt etwas, das sie ahnen lässt, dass david ein geheimnis mit sich trägt. es dauert ein paar tage, bis er damit herausrückt und nichts ist mehr wie vorher in dieser familie.
ein wirklich erfrischender, unterhaltsamer roman der eine überraschende tiefe hat. witzig und gut beobachtet beschreibt die autorin die geschehnisse und lässt einen bereits ahnen, dass wenige jahre später der krieg in der ukraine ausbricht. treffend beschriebene charaktere geben der geschichte eine besondere note. das gelungene buch ist eine spannende lektüre, die man kaum unterbrechen kann.

02.09.2023

florian gottschick: damals im sommer

zwei brüder verbringen die sommerferien mit ihren eltern am meer. der sportliche aeltere ist mit seinen 17 jahren schon ziemlich selbstsicher. der fünfzehnjährige ich-erzähler ist voll von zweifeln und bewundert seinen bruder. trotz aller unterschiede haben die beiden aber ein inniges verhältnis. am strand lernen sie den rätselhaften filip kennen. der jüngere ist fasziniert – bisher nicht gekannte gefühle brechen über ihn herein. die beiden kommen sich näher, bis sie am letzten ferientag die nacht miteinander verbringen. nach der abreise bricht der kontakt ab und filip bleibt kaum erreichbar. dann verändert eine nachricht in seinen sozialen medien alles, lässt den jüngeren bruder auf einen schlag erwachsener werden.
der aus der retrospektive erzählte familienroman ist auch ein liebesdrama und eine schwule coming-out-geschichte. der sprachlich oft ein wenig eigenartige, streckenweise konstruiert wirkende text erscheint etwas überladen und handlungsgehetzt. sehr schön ist die darstellung des komplizierten verhältnisses der beiden brüder, während die eltern eher etwas plakativ daherkommen. alles in allem ist das buch jedoch spannend zu lesen. es kam mir – mich an meine eigene pubertät erinnernd – irgendwie sehr nahe.