27.11.2023

paul savatier: der entführer

victor, ein einfacher gelegenheitsarbeiter, ist wegen einer kindesentführung angeklagt und sitzt deswegen im gefängnis. aber alles hat sich anders ereignet. weil er sich mündlich schlecht ausdrücken kann, schreibt er die wahrheit in heften für den richter und seine verteidigung auf. er hat die 10-jährige nathalie zufällig völlig durchnässt im starken regen getroffen. seit ihr vater nicht mehr da ist, wird sie von ihrer mutter und ihrer schwester geschlagen. ganz anders begegnet ihr victor: sie fasst vertrauen zu ihm, er lässt sie bei sich übernachten und sie versteckt sich da. es ist victor bewusst, wie heikel eine solche situation ist. deshalb begegnet er nathalie immer mit distanz und grösster sorgfalt. tagelang wird das abgängige mädchen erfolglos gesucht, bis sie nach einigen monaten eines unglücklichen zufalls wegen, entdeckt wird.
die hefte von victor sind unkommentiert das buch. mit einer grundehrlichen haltung und einer für ihn stimmigen sprache schreibt er über diese gemeinsame zeit, über seine fürsorge, seine zweifel und seine listen. dieser einfühlsame text ist spannend, sehr berührend und lässt einen an das gute im menschen glauben. der aufbau des romans ist einzigartig: erst ganz zum schluss wird klar, wie die geschichte ausgeht.

24.11.2023

andreas neeser: wie wir gehen

am 83. geburtstags umarmt mona ihren vater johannes zum ersten mal. ihm, der unter schwierigen verhältnissen aufgewachsen ist, gelang es als jugendlicher seinen weg aus armen verhältnissen zu finden. dies hat ihn geprägt, er bleibt für seine tochter ein stiller und wenig nahbarer vater. mona steht mitten im leben, ist geschieden von ihrem mann pierre und hat eine tochter, die ihre eigenen wege zu gehen beginnt. sie erkennt, wie fremd ihr der vater eigentlich ist und versucht dem alten, kranken mann näher zu kommen. als uebersetzerin für arabisch begegnet sie dem syrischen asylbewerber salim, zu dem sie kontakt behält und dessen schicksal sie belastet, dessen verhalten sie jedoch nicht immer versteht.
in einer schönen, ruhigen sprache werden hier die sehr unterschiedlichen leben verschiedener menschen und deren nicht einfache beziehungen erzählt. neben dem eindrücklichen rückblick auf den werdegang des vaters bleiben die anderen personen etwas blass. jeder und jede hat ein anderes leben, hat andere gedanken und vorstellungen. ohne psychologisierung versteht der autor die probleme und schwierigkeiten darzustellen. der roman bleibt trotz der vielen handelnden und der zeitsprünge übersichtlich und ist berührend zu lesen.

19.11.2023

simon deckert: siebenmeilenstiefel

die mittlerweile erwachsene andrea und ihr etwas jüngerer bruder michl wachsen in einem schwierigen umfeld auf. ihr vater ist alkoholkrank, die mutter hat die familie schon lange verlassen. eines tages flüchtet sie gemeinsam mit ihrem bruder aus dieser enge zu einer verwandten in der stadt. michl, für den die schule nicht einfach war und das leben auch schwierig ist, findet in bastian einen freund, mit dem er musik machen kann. andrea arbeitet zeitweise in einer bar. daneben erfindet sie eine eigene biografie, die sie mit fantasievollen lebewesen und ereignissen anreichert. sie verliebt sich in bastian, die zwei beginnen eine beziehung, in der bastian der realistischere ist. er bringt andrea dazu ihre maturitätsprüfung doch noch nachzuholen. irgendwie ist der roman dann plötzlich zu ende, alles bleibt offen.
so kompliziert die beschreibung des inhaltes erscheint, so ist dieser auch. kurz: zwei junge menschen, die eine neue lebensgrundlage suchen und träume haben. aber keine einfach ablaufende, sondern eine komplexe auf verschiedenen ebenen und in verschiedenen zeiten angelegte geschichte. das ganze kommt etwas unübersichtlich daher, erst gegen schluss lassen sich beziehungen und ver­wandt­schaftsgrade der handelnden überblicken. der etwas ungewohnte umgang mit dem genitiv irritiert zunächst, macht das buch aber damit irgendwie sympathischer. mich hat es trotz der aktualität des themas nicht wirklich erreicht.