26.02.2024

thomas brussig: helden wie wir

mit einer übermässig beschützenden mutter und einem vater, der offiziell im ministerium für aussenhandel, in wirklichkeit aber für die staatssicherheit arbeitet, wächst klaus unter einer strengen erziehung auf. er schreibt in autobiografischer form an einen amerikanischen journalisten über seine jugend in der ddr bis zum mauerfall 1989, an dem er massgeblich beteiligt gewesen zu sein vorgibt. seine kindheit ist vor allem geprägt durch den hygienewahn seiner mutter. in seiner pubertät beherrschen ihn viele erotische phantasien und sexuelle bedürfnisse, die immer wieder durch die von seiner mutter vermittelten tabus gestört werden. später folgt seine mitarbeit bei der staatssicherheit, in die er auf nicht ganz nachvollziehbare weise gerät und die ihm auch immer etwas fremd bleibt. in der entscheidenden nacht gerät er in die volksmenge, die die oeffnung der grenze erfolgreich fordert und die berliner mauer zu fall bringt.
das buch beschreibt eine schwierige jugend in einem schwierigen umfeld, pendelt zwischen satire und einer art realem drama. eigentlich leicht zu lesen und trotz der manchmal etwas skurrilen handlung immer irgendwie zu verstehen. der text macht eher einen jounalistischen als einen literarischen eindruck. auch das pendeln zwischen spannung und langfädigen wiederholungen birgt etwas eigenartiges. eher bemühend sind die ganzen geschichten um seinen penis, die sich penetrant durch das ganze buch ziehen. für leute, denen die lebenssituation in der ddr völlig unbekannt ist, bleibt die geschichte wahrscheinlich über längere strecken ein rätsel.

15.02.2024

philipp oehmke: schönwald

hans-harald und ruth schönwald sind seit vielen jahren verheiratet und haben drei erwachsene kinder. chris, der aelteste, ist professor an einer amerikanischen eliteuniversität, karolin eröffnet mit einer freundin eine lesbisch-schwule buchhandlung, benni ist verheiratet und hat zwei söhne – auf den ersten blick geordnete verhältnisse. während ihr mann alles analysierend hinterfragt, ist ruth meisterin, probleme zu ignorieren und auszusitzen. als die ganze familie an der eröffnung des buchladens mit einer de­mon­stration konfrontiert wird, beginnt die vermeintliche harmonie zu bröckeln, plötzlich kommt allerlei an den tag: chris hat seine stelle schon seit einiger zeit verloren, benni hat emilia geheiratet, für die karolin gefühle gehabt hatte, ruth hat jahrelang nebenher eine aussereheliche beziehung geführt und harry hat nicht alle tennisstunden bei diesem sport verbracht. nur drei tage später, an einem von benni für die gan­ze familie geplanten grillfest, ist der sorgsam gepflegte scheinbare familienfriede nicht mehr zu retten.
in einer reichen, zeitweise provokativen sprache wird das bild einer deutschen nachkriegsfamilie gezeichnet, die sich mit der unmittelbaren vergangenheit nicht auseinandersetzt und wenig bis kaum über ihre aktuellen schwierigkeiten spricht. zwar werden in dieser weitläufigen geschichte viele problemfelder und ereignisse nicht zu einem stimmigen ende geführt, trotzdem bleibt die spannung immer erhalten und entwickelt einen starken sog. durch kapitel klar abgegrenzte zeitliche rückblenden machen es einfach, der komplexen handlungsstruktur zu folgen. emotionale momente und dramatische situationen unterbrechen immer wieder die alltägliche durchschnittlichkeit. moralisch, ohne moralisierend zu sein, und dramatisch findet der roman einen eher unerwartet unaufgeregten, fast ein wenig enttäuschenden schluss mit einem offenen ende.

08.02.2024

concetto vecchio: jagt sie weg!

unter vielen anderen italienern ist auch carmelo zur arbeit in die schweiz ausgewandert. in süditalien ist die arbeitslosigkeit in den 1960er-jahren hoch, während die industrie in der schweiz dringend arbeitskräfte sucht. eine beachtliche zahl von menschen vor allem aus italien findet hier arbeit – lebt aber unter unmenschlichen bedingungen. das saisonierstatut verbietet den familennachzug, oft leben die zugewanderten in baracken oder anderen unzulänglichen unterkünften, weil ihnen nichts anderes zur verfügung gestellt wird. viele von ihnen verstecken ihre kinder, die sie illegal hierher mitgenommen haben. gleichzeitig wird viel unmut in der bevölkerung geschürt. an die spitze der «nationalen aktion für volk und heimat» setzt sich james schwarzenbach mit seiner ueberfremdungsinitiative für die reduktion der ausländischen wohnbevölkerung ein. die initiative spaltet das volk, wird letztlich abgelehnt, aber hinterlässt spuren, die bis heute spürbar sind.
in einem sehr persönlichen, emotionalen und gleichzeitig sachlichen text zeichnet der autor nicht nur die lebensgeschichte seiner eltern und ihrer leidensgenossen nach, sondern analysiert auch die person und das wesen des james schwarzenbach. er veranschaulicht auf sehr differenzierte art die konflikte zwischen den interessen der wirtschaft und der gesellschaftlichen wahrnehmung. ein stück unrühmlicher schweizer geschichte, das mich sehr betroffen macht, tut sich auf und trotzdem findet das buch einen versöhnlichen schluss.