23.09.2024

oskar maria graf: das leben meiner mutter

in der zweiten hälfte des 19. jahrhunderts ist das leben der landleute von viel arbeit und mühsal geprägt. die katholische kirche hat einen umfassenden einfluss auf menschen. resl, oder therese, wie sie mit taufname heisst, tochter eines bauern, wächst zu jener zeit mit einigen geschwistern in der gegend um den starnberger see auf. sie ist eine fleissige, strenggläubige junge frau, die eigentlich nur arbeiten und beten kennt. als max, der junge bäcker aus dem nachbardorf um sie anhält, wird bald geheiratet. sie wird die mutter von elf kindern, von denen acht am leben bleiben. bis in die 1930er jahre erlebt sie die stürmische entwicklung der welt, das ende der monarchie, zwei kriege und bleibt dabei die treu duldsame, bescheidene mutter. als alte frau stirbt sie zur zeit der machtübernahme der nationalsozialisten in deutschland.
der autor dieses buches, das zweitjüngste kind, setzt nicht nur seiner mutter ein starkes denkmal mit diesem bericht, sondern beschreibt auch auf eindrückliche weise die bäuerliche gesellschaft jener zeit und den einfluss, den das weltgeschehen darauf hatte. der verlust traditioneller religiöser und gesellschaftlicher werte und die dadurch entstehende entfremdung zwischen den generationen werden zu einem überaus anschaulichen bild gefügt. starke, detaillierte personenbeschreibungen lassen einen in diese ländliche welt eintauchen. der ganze roman übt – obgleich nicht immer spannend – eine ganz besondere faszination aus.

15.09.2024

urs widmer: der geliebte der mutter

als sie sich kennenlernen, ist sie die schöne tochter aus wohlhabendem haus, er ein armer junger von musik beseelter mann. sie unterstützt ihn als werdenden dirigenten, wendet ihm mittel zu und arbeitet später ehrenamtlich für sein neu gegründetes orchester. niemand weiss von ihrer heimlichen liebe zu ihm, für die er blind ist und die er nie erwidert. lebenslang trägt sie ihn im herzen. am ende des lebens ist er berühmt, steht auf den renommiertesten bühnen der welt, sie hingegen ist verarmt, immer noch von der unerklärten liebe zu ihm umgetrieben.
eine schwierige beziehung zwischen zwei unterschiedlichen menschen tut sich vor uns auf. mit einer präzisen beschreibung der gefühlslagen und deren auswirkungen lässt uns der autor in eine situation blicken, die wahrscheinlich viele zumindest im ansatz kennen. trotz der abgründigen handlung ist der eine leichtigkeit ausstrahlende roman spannend und leicht zu lesen. er vermittelt uns ohne einen belehrenden anspruch ein stück lebensweisheit.

09.09.2024

tommi kinnunen: das licht in deinen augen

jalhja und onni führen ihr fotogeschäft und bringen es nach den kriegsjahren mit entbehrungen wieder zu etwas wohlstand. onni, zurück aus dem krieg ist aber nicht mehr der gleiche. konflikte mit seiner frau belasten und verunsichern auch ihre drei kinder. für helena, die früh erblindet, wollen sie nur das beste: sie schicken sie auf eine blindenschule in helsinki. sie wird eine selbständige pianistin und klavierstimmerin. ihr neffe tuomas verlässt viele jahre später die heimat ebenso, um in der hauptstadt sein leben als schwuler mann freier führen zu können. dort treffen sich die beiden fern der heimat wieder. ihre leben sind immer wieder geprägt von rückschlägen und heimweh nach der familie.
das familienepos über vier generationen durch eine zeit sozialer und wirtschaftlicher entwicklung wirft vor allem ein licht auf die zwei »aussenseiter«, die blinde helena und den schwulen tuomas, deren leben sich von dem ihrer verwandten im norden stark abhebt. trotzdem bleiben alle einander verbunden, sorgen füreinander und lernen sich gegenseitig zu respektieren und akzeptieren. die zeitweise etwas unrealistisch harmonische geschichte ist in vielen zeitsprüngen erzählt, was zu beginn die orientierung nicht ganz einfach macht. ein kleines personenregister hätte den ueberblick vereinfacht. allein schon die einzigartige beschreibung der räumlichen orientierung helenas durch geräusche, echos, gerüche und luftbewegungen lohnt, das buch zu lesen. die karge sprache und das offene ende machen eine andere stärke dieses romans aus.

06.09.2024

john lanchester: die mauer

ein blick in die zukunft: joseph kavanagh wird wie alle jungen menschen in england, zum zweijährigen dienst auf der mauer eingezogen. dies ist der verteidigungswall entlang der ganzen küste und schützt die insel vor illegal eindringenden menschen, aber auch vor dem steigenden meeresspiegel. der wachdienst auf der mauer ist stark reglementiert, fehler und verstösse werden drakonisch sanktioniert. als kavanaghs einheit bei einem angriff versagt, werden etliche von ihnen zur strafe auf dem meer ausgesetzt. in ihrem kleinen rettungsboot geht es ums ueberleben und die suche nach einer neuen heimat. so werden die ehemals bewachenden selbst zu flüchtlingen.
eigentlich gibt es dies heute alles schon: flüchtlinge, mauern, klimaveränderung, abschottung, brexit. trotzdem wirkt dieser parabelhafte text utopisch, irgendwie auch unwirklich und bizarr. beeindruckend aktuell geht der autor den brennenden fragen unserer zeit nach. das wechselbad zwischen realistischen und unrealistischen momenten macht das lesen spannender als die handlung selbst. das ende des romans hätte ich mir anders und offener gewünscht.