22.03.2018

lukas hartmann: die seuche

vor dem hintergrund der grossen pestepidemie im 14. jahrhundert wird die geschichte von hanna erzählt. sie verlässt nach dem tod ihrer grossmutter ihr haus und geht in den wald, um den menschen und damit der ansteckungsgefahr auszuweichen. unterwegs trifft sie auf einen zug von büssern, die mit gebeten und selbstgeisselungen versuchen, der krankheit zu entgehen. hanna merkt aber bald, dass dies nicht ihr weg ist. von ihrer grossmutter weiss sie viel über heilkräuter und salben. bald wird sie bei einem patrizier in der stadt angestellt, um dessen pestkranke frau zu pflegen.
dazwischen stehen immer kurze texte über das sterben einer drogenabhängigen, eines bluters und einer afrikanischen familie an aids. dieser blick auf die parallelen zur heutigen zeit zeigt auf, wie wenig die stigmatisierung von und der umgang mit infektiösen, tödlich kranken sich geändert hat.
ein dichter roman, der in eine dunkle zeit eintaucht und bildhaft und stark diese gesellschaft der verlorenen beschreibt. die mitreissenden schicksale der einzelnen menschen bewegen einen beim lesen stark.

15.03.2018

alain claude sulzer: aus den fugen

und plötzlich bricht der pianist marek olsberg mitten in einem stück sein spiel ab, steht auf, klappt den deckel zu und verlässt die bühne. das publikum ist verunsichert und der schöne abend endet für die einzelnen konzertbesucherinnen und -besucher ganz anders als geplant. von einigen von ihnen erfahren wir näheres: beziehungen gehen in brüche, freundschaften stehen auf dem spiel und allerlei gerät aus den fugen. während all dem fühlt sich der pianist so frei wie nie zuvor und sitzt inkognito in einem lokal hinter einen bier, wo ihm ein junger mann begegnet.
mit spitzer feder beschreibt der autor menschen und deren scheinwelten. damit demontiert er nicht nur unerbittlich die fassaden der einzelnen, sondern zeichnet auch pointiert ein spiegelbild dieser gesellschaft. er führt uns vor augen, wie brüchig oder bereits gescheitert die lebensentwürfe von menschen sein können. einzig der schluss läuft gefahr etwas unwirklich und beinahe kitschig zu werden. ein unterhaltsames und amüsantes buch, das man kaum zur seite legen kann und dessen letztes kapitel den lesegenuss zu schnell beendet.

12.03.2018

shusaku endo: meer und gift

die geschichte beginnt damit, dass der autor nach seinem umzug seinen neuen arzt aufsucht, der den nötigen eingriff ausserordentlich geschickt und schmerzfrei macht. dr. suguro ist aber ein eigenartiger mensch, zu dem der patient keinen zugang findet. suguros lebensgeschichte führt zurück in den zweiten weltkrieg, wo er mit anderen in einem krankenhaus an menschenversuchen unter dem deckmantel der wissenschaftlichkeit beteiligt war.
geschickt führt der autor diesen arzt und weitere beteiligte über deren lebensläufe an diesem ort des grauens zusammen. wie zufällig geraten sie in dieses schreckliche projekt der armee. während einige von diesem tun im nationalen interesse überzeugt sind, andere um ihrer karriere willen mitmachen oder sich einfach in der pflichterfüllung im system sehen, kommt suguro in grosse ethische konflikte, hat aber nicht die kraft, sich dagegen aufzulehnen.
dieser roman zeigt auf eindrückliche weise nicht nur das ethische dilemma eines einzelnen, sondern auch die schwäche, die ihn zum mitschuldigen macht.
es lässt sich erahnen, wie immer wieder in totalitären systemen, unterdrückung und menschenverachtung sich einen weg bahnen können.

08.03.2018

fjodor dostojewskij: der spieler

der junge hauslehrer aleksej iwanowitsch ist mit seiner herrschaft, einem früheren russischen general, in einer deutschen stadt. sein herr erwartet nichts sehnlicher als den tod seiner reichen erbtante. diese jedoch taucht eines tages auf und verspielt im hiesigen spielkasino ihr ganzes vermögen. auch iwanowitsch beginnt zunächst harmlos zu spielen. jedoch verfällt er immer mehr der spielsucht und verliert alles. selbst seine heimliche liebe zur stieftocher des generals kann ihn nicht mehr retten.
was zunächst etwas kompliziert beginnt, wird schnell zu einem faszinierenden roman. so wie die protagonisten kaum vom spieltisch kommen, so lässt einen das buch beim lesen kaum los. nicht von ungefähr sind diese sucht, dieses verlangen und diese abhängigkeit so genau und nachvollziehbar beschrieben. dostojewskij war selbst spieler und die geschichte trägt viele autobiografische züge.

04.03.2018

anne cuneo: der eiskönig aus dem bleniotal

weil zuhause im bleniotal kein auskommen möglich ist, zieht carlo gatti bereits als 13-jähriger ohne schulbildung – des lesens und schreibens unkundig – nach paris und arbeitet dort zunächst bei verwandten als marroniverkäufer. etliche jahre später zieht er weiter nach london, wo er als weitsichtiger mann sich bei bekannten und freunden geld ausleiht und beginnt, schokolade und süssigkeiten herzustellen und kaffeehäuser nach französischem vorbild zu eröffnen. aber erst sein mutiger und visionärer einstieg in das geschäft mit natureis macht ihn endgültig reich. als begüterter mann kehrt er später zurück in seine heimat, mit der er immer verbunden bleibt, wo er politisch tätig wird und sich für den bau einer strasse über den lukmanierpass stark macht.
zeit seines lebens setzt carlo gatti sich immer für die armen ein, sowohl in seiner heimat als auch in london. vor allem hungernden, auf der strasse lebenden kinder nimmt er sich immer wieder an. so liest er eines nachts auch nicola auf, bringt ihn nach hause und entdeckt seine einzigartige begabung für zahlen und sein ausgeprägtes fotografisches gedächtnis. nicola wird zu seinem ziehsohn, dem er eine gute ausbildung ermöglicht.
gattis lebensgeschichte wird aus der sicht von nicola erzählt. der autorin gelang mit diesem buch ein wunderbares zeitgemälde aus dem 19. jahrhundert, der zeit der fortschreitenden industrialisierung, der wichtigen technischen innovationen, aber auch der zeit grossen sozialen gefälles in der gesellschaft. vor diesem hintergrund erfahren wir vom leben und wirken dieses auswanderers aus einer epoche, als in der schweiz viele von armut betroffene menschen keinen anderen weg als die emigration sahen.