21.04.2019

lukas bärfuss: hagard

wegen eines geplatzten geschäftstermins bleibt philipp etwas zeit ohne verpflichtung. zufällig erblickt er in der menschenmenge vor ihm zwei frauenbeine in blauen ballerinas. spielerisch beginnt er diesen zu folgen, versucht herauszufinden, wie lange er die frau nicht aus den augen verliert. ohne zu wissen, was er eigentlich von ihr will und immer darauf bedacht, dass sie ihn nicht entdeckt, folgt er ihr, lässt seine termine termine sein. dazu wird der akku seines telefons leer, er kann nicht mehr erreicht werden. in seinem auto verbringt er wachend die nacht vor ihrem haus. am nächsten morgen folgt er ihr weiter. aus dem anfänglichen spiel wird mehr und mehr eine obsession und philipp beginnt alles zu verlieren, was sein bisheriges leben ausmacht.
die handlung beginnt faszinierend und packt einen sofort. mit der zeit nimmt die spannung etwas ab. der schluss kommt überraschend und für mich auch nicht ganz stimmig. die geschichte mag vor allem ein exemplarisches beispiel dafür sein, wie leicht wir uns verführen lassen können und wie unsere wirtschaftliche existenz zuweilen an einem dünnen faden hängt. die reiche und wunderschöne sprache entschädigt einen aber vollständig und lässt über den handlungsverlauf hinwegsehen. es bleibt auf jeden fall ein lesenswertes buch.

16.04.2019

olga grjasnowa: die juristische unschärfe einer ehe

leyla, von ihrer mutter schon früh gefördert, tanzt mittlerweile im ballett des bolschoi-theaters. altay arbeitet als assistenzarzt in einem staatlichen krankenhaus, in dem es an allem fehlt. die beiden führen eine zweckehe um dem heiratsdruck ihrer familien zu entgehen, denn altay ist schwul und leyla lesbisch. moskau bietet aber auch keine perspektive, so ziehen sie nach berlin, wo sie jonoun kennenlernen. die sich entwickelnde dreiecksbeziehung ist kompliziert und nicht beständig. als alles zu zerbrechen droht, reisen die drei in ihre heimat, den kaukasus.
die rasante und spannende geschichte, die an deren ende beginnt und in der retrospektive erzählt wird, berichtet nicht nur von der komplizierten beziehung dreier menschen, sondern auch vom schwierigen leben zwischen tradition und moderne in aserbeidschan. trotz allen unwägbarkeiten bleiben sich leyla und altay in einer ganz besonderen art der liebe zugetan. die klare sprache und prägnanten sätze tragen viel zum lesevergnügen bei. man kann das buch kaum weglegen, bevor es zu ende gelesen ist.

14.04.2019

pierre lemaitre: drei tage und ein leben

als der kleine rémi plötzlich verschwindet, wird unter beteiligung der bevölkerung des ortes eine grosse suchaktion gestartet. in der nächsten nacht beginnt ein unwetter, während drei tagen verwischen sturm und regen alle spuren. für den zwölfjährigen antoine, den sohn der nachbarn, der am tod rémis schuld ist, bringt dies etwas entspannung: die gefahr entdeckt zu werden wird geringer. einzig seine mutter und der dorfarzt scheinen etwas zu ahnen. antoines leben geht weiter, über jahre verfolgt ihn aber seine tat und hat immer wieder schwerwiegenden einfluss auf sein leben.
faszinierende handlungsabläufe und immer wieder neue, teilweise überraschende ereignisse machen das buch zu einer ganz besonderen art von krimi. im zentrum stehen die gefühlslage antoines und die frage, wie ein leben über so lange zeit mit dem wissen um schuld verlaufen kann. die genaue beschreibung der einzelnen menschen und die langsame offenlegung immer neuer beziehungsfelder und sachverhalte sind meisterhaft miteinander verknüpft.

09.04.2019

christoph meckel: suchbild. von meinem vater / suchbild. meine mutter

suchbild. ueber meinen vater
wie ein schatten seiner selbst kehrt der vater aus der kriegsgefangenschaft zurück. verletzt und zerstört versucht er wieder tritt im zivilen leben zu fassen. nur schwer findet er anerkennung als schriftsteller, verdient sich das leben mit kulturjounalistischer arbeit. die suche nach der idylle der vorkriegsjahre, die prekäre lebenssituation und die kruden erziehungsmethoden bestimmen die kaum vorhandene beziehung von vater und sohn.

suchbild. meine mutter
der autor beschreibt seine mutter als kühle frau, die kaum emotionen zeigt und von der er nicht die erwartete zuwendung und liebe erfahren hat. als tochter einer preussischen protestantenfamilie ist sie aus dem norden deutschlands gekommen um einen katholischen mann zu heiraten. literatur, bildung, kultur und gute erscheinung scheinen wichtiger als ihre familie. der krieg trennt sie sieben jahre von ihrem mann. sie zeigt deswegen kaum gefühle, sondern sorgt pflichtbewusst und rational für das ueberleben ihrer selbst und ihrer drei söhne. auch im hohen alter bis zu ihrem tod führt sie ein strenges leben, ihren werten und ihrem glauben zugewandt.

unerbittlich und streng beschreibt der autor all das, was er in seiner jugend erlebt und vermisst hat. die beziehung zu seinem vater ist getrübt von dessen vergangenheit. wie viele deutsche seiner generation stellt der autor die frage nach der geschichte des vaters und muss feststellen, dass dieser den na­tio­nal­sozialismus nicht nur erduldete, sondern – wenn auch nicht mitglied der partei – doch dessen ideen vertrat. in beiden suchbildern fehlt der jeweils andere ehepartner fast gänzlich, als hätten sie nichts miteinander zu tun. mit grosser genauigkeit und einer beachtlichen emotionalen distanz versucht der autor den leben seiner eltern nachzugehen und beschreibt mit starken worten die stimmung in seiner familie.

03.04.2019

trevor noah: farbenblind

als sohn einer schwarzen mutter und eines weissen vaters kommt trevor in südafrika noch während der zeit der apartheid zur welt. seine alleinerziehende mutter ist eine starke frau, die selbstbestimmt lebt, unbeirrt ihren weg geht und für ihren sohn immer da ist. trotzdem sind die jugendjahre trevors nicht einfach. die apartheidsgesetze sind zwar mittlerweile abgeschafft, nach wie vor sind deren folgen noch überall zu spüren. als trevors mutter einen anderen mann heiratet wird alles noch schwieriger.
dieses autobiografische buch vermittelt einen direkten einblick in die zeit unmittelbar nach der aufhebung der rassentrennung in südafrika und führt nicht nur vor augen, wie menschenverachtend und absurd sondern auch wie grotesk dieses system war. gerade das schwierige leben – zeitweise in grosser not – verbindet die menschen in hoffnung und liebe. in verschiedenen kapiteln beschreibt trevor noah ereignisse aus seiner jugend, die sich immer wieder gleichen. auch wenn der bericht dadurch zeitweise etwas an spannung verliert, so zeigt er gerade auf, wie alle initiativen und ideen immer wieder ins leere laufen oder vom system behindert werden.