31.10.2019

alain claude sulzer: unhaltbare zustände

in einem führenden warenhaus der stadt arbeitet robert stettler seit vielen jahren als dekorateur. seine im immer gleichen jahresrhythmus sorgfältig und aufwändig gestalteten schaufenster sind ein inbegriff solider qualität. eines tages wird ein junger kollege eingestellt, der mit neuen ideen viel erfolg hat und von stettler als konkurrent empfunden wird. diese entwicklung geschieht um 1968, der zeit der studentenrevolten. mit den sich verändernden zeiten geraten auch seine wertvorstellungen ins wanken; er realisiert, dass seine zeit abgelaufen ist. seit seine mutter gestorben ist, lebt er alleine sein streng geregeltes, aber einsames leben. nur ein briefwechsel mit der von ihm bewunderten radiopianistin lotte zerbst hält ihn noch aufrecht und er hofft auf eine begegnung mit der künstlerin.
was für eine ergreifende, gehaltvolle geschichte eines menschen in zeiten gesellschaftlichen umbruchs. die auseinandersetzung mit dem aelterwerden und der konfrontation mit der nachfolgenden generation, die die geltenden werte in frage stellt, gelingt ihm schlecht. unsicherheit, machtverschiebungen, vermeintliche feindschaften beginnen seine arbeitswelt zu dominieren. hier wird ein aktuelles thema aufgenommen, das heute viele menschen betrifft. allein die beschreibung des einsamen lebens stettlers lohnt schon, sich in diesen text zu vertiefen. ein zutiefst menschlicher roman der subtil die befindlichkeit der protagonisten beschreibt.

24.10.2019

rolf lappert: nach hause schwimmen

wilburs mutter stirbt bei seiner geburt in new york und sein vater ist über den verlust seiner frau so schockiert, dass er weggeht und unauffindbar bleibt. so werden waisenhäuser, grosseltern, pflegeeltern und erziehungsanstalten wilburs neue heimat. damit das leben nicht zum fiasko wird, kompensiert er seine kleinwüchsigkeit und schmächtigkeit mit intelligenz und schlauheit. viele träume und sehnsüchte bleiben unerfüllt und die suche nach seinem vater ist mit vielen enttäuschungen verbunden. der wunsch zu sterben, begleitet ihn durch die ganze adoleszenz. einzig aimée, eine junge frau, vermag vielleicht etwas zu ändern.
das bei seiner neuerscheinung sehr gelobte und gefeierte buch beschreibt die odyssee eines waisenknaben. aus der gegenwart wird in wiederkehrenden retrospektiven über alles zurückliegende berichtet. die weitverzweigten familien- und beziehungsverhältnisse und die vielen vorkommenden personen fordern einen beim lesen ziemlich. die herausragenden beschreibungen von landschaften und menschen machen die geschichte aber zu einem wirklichen erlebnis. leider enttäuscht die flüssige und zeitweise spannende lektüre mit einem etwas flachen schluss.

14.10.2019

paul auster: winterjournal

«du bist in den winter deines lebens eingetreten», mit diesem satz beendet der 64-jährige autor ein sehr persönliches, autobiografisches buch. er erzählt darin – entlang seinen unzähligen wohnorten – die entwicklung seines lebens, reflektiert differenziert eigene versagensmomente, erzählt von seiner familie und seinen vorfahren. er berichtet davon, was alles ihn beeinflusst hat, was ihm ohne grosse leistung zugefallen ist und was er sich selbst erarbeiten musste. und nun stellt er fest, dass sein körper nicht mehr jung ist und dass aengste und sorgen um das altern aufkommen. aber er blickt zurück auf ein weitgehend schönes und privilegiertes leben und auf eine bereits mehr als dreissigjährige glückliche ehe mit seiner frau.
ein ganz schönes und tröstliches buch mit viel selbstreflexion und philosophischen betrachtungen, die einen über das eigene leben und die eigene vergangenheit nachdenken lassen. die reiche sprache, die so treffenden beschreibungen und die zunehmende nachsicht mit seiner umwelt bergen viel emotionen und spannung.

11.10.2019

alina bronsky: der zopf meiner grossmutter

die grossmutter tut sich schwer mit dem leben in der neuen heimat. in russland war sie einst eine gefeierte tänzerin, im flüchtlingsheim in deutschland ist sie vor allem darum besorgt, ihren enkel vor den einflüssen dieser welt zu schützen. als sich ihr mann in eine andere frau verliebt und noch einmal vater wird, entsteht daraus erstaunlicherweise kein eifersuchtsdrama. die grossmutter ist eher bemüht alle in einer art grossfamilie zu vereinen, während der enkel langsam in die pubertät kommt und sich ihrer fürsorglichen belagerung zu entziehen beginnt.
die zeitweise beinahe groteske geschichte ist ein erfrischendes lesevergnügen und gibt einen – wenn auch zeitweise überzeichneten – einblick ins leben und in die probleme aus russland eingewanderter menschen. bestechend sind die detaillierten beschreibungen von menschen und orten. leider vermag das buch nicht immer die spannung zu halten, aber es bleibt unterhaltsam und trotz der vielen karikierten personen und handlungen trotzdem irgendwie ernsthaft.

04.10.2019

ian mc ewan: solar

michael beard hat als relativ junger physiker bereits den nobelpreis erhalten. mittlerweile ist er über 50 und seine besten zeiten sind vorbei. seine tätigkeit hat sich darauf reduziert, die immer gleichen vorträge zu halten und seinen namen für projekte und firmen zu geben, damit diese leichter geldgeber finden. privat rächt seine fünfte ehefrau gerade mit einem liebhaber seine unzähligen affären. als alles in die brüche zu gehen beginnt, findet sich die möglichkeit, einen ganz grossen coup zu landen. aber schnell droht sein betrug aufzufliegen. beard steht unerwartet vor ganz grossen problemen, die er zunächst nicht wahrhaben will.
allein die genaue beschreibung der person von michael beard und seiner gedankenwelt lohnt schon, das buch zu lesen. zeitweise geradezu bösartig und sarkastisch führt uns der autor durch ein paar monate des lebens dieses physikers; und ohne moralisierend zu werden, geht es um ethik und moral. spannend, tiefgründig, unterhaltsam und emotional lässt einen diese geschichte kaum los.