23.12.2019

sofi oksanen: die sache mit norma

zu beginn steht die beerdigung von normas mutter anita. norma glaubt nicht an einen selbstmord und beginnt nach beweisen für deren ermordung zu suchen. dabei findet sie ein foto ihrer urgrossmutter, über die in der familie nicht gesprochen wird. langsam kommt norma hinter die abenteuerliche geschichte ihrer vorfahren und es beginnt sich deren einfluss auf das aktuelle geschehen abzuzeichnen. sie trifft auf marion, die mit anita eine neue gemeinsame berufliche zukunft geplant hat. und es treten noch einige andere personen auf, die in eine komplizierte, an mafiöse verhältnisse erinnernde geschichte verwickelt sind und über deren rollen man sich lange nicht klar wird. dies alles gibt für norma nicht immer einen sinn und auch beim lesen steht man der handlung zeitweise hilflos gegenüber, bis der «krimi» zum schluss eine unerwartete wendung nimmt.
dieser abgründige und fantasievolle roman vereint einige brandaktuelle themen wie diskriminierung von minderheiten, unterdrückung von frauen, menschenhandel, macht und machtmissbrauch. die vielschichtige handlungsstruktur und die teilweise beinahe fantasyhaften erscheinungen erfordern beim lesen eine hohe konzentration. sprachlich brillant entwickelt das buch einen sog, dem man sich beim lesen kaum entziehen kann.

15.12.2019

hans peter hauschild: fluchtversuche

miro sabanovic ist ein romajunge, der seine frühe kindheit in bosnien verbringt. beim ausbruch des jugoslawienkrieges flüchtet die ganze familie nach berlin. vater und mutter sind gewalttätig und schicken ihre kinder auf diebstahltouren. bereits als elfjähriger entdeckt er mehr zufällig, wie er als strichjunge geld verdienen kann. und später entdeckt er auch seine eigene homosexualität, ein tabu in seiner herkunfts­familie. im schwulen milieu berlins lernt er erstmals menschen kennen und lieben. aber er wird auch drogenabhängig und immer wieder von der polizei aufgegriffen. längere gefängnisstrafen und sein strafregister führen letztlich zur abschiebung. heute lebt er mehr schlecht als recht in bosnien.
es ist die erschütternde geschichte eines jugendlichen, der letztlich keine chance hat. die biografie ist ein schonungsloser, berührender text, der einen – trotz der zuweilen reisserischen art – emotional durchaus erreicht. trotzdem bleibt man etwas ratlos zurück. daran ändert auch die anschliessende sozialkritische analyse nichts, die diese geschichte exemplarisch aufzuarbeiten versucht. der wissenschaftliche ansatz bleibt wegen der mangelnden neutralen distanziertheit irgendwie fremd.

12.12.2019

ivna žic: die nachkommende

die geschichte beginnt mit einer bahnreise von paris nach kroatien. die erzählerin verlässt den mann, mit dem sie eine beziehung hatte, die keine dauernde werden konnte. ihre reise führt sie zur insel, woher ihre grossmutter kommt und auf der ihre ganze familie jedes jahr die sommerferien verbringt. unterwegs geht sie ihren gedanken nach, erinnert sich an ihre grosseltern, an frühere besuche und an unbequeme reisen. das land, aus dem sie dereinst kam gibt es nicht mehr; die grenzen haben sich verschoben und eine andere bedeutung bekommen.
mit der subtilen beschreibung ihrer erinnerungen vermittelt sie das lebensgefühl vieler junger menschen der nachkommenden einwanderergeneration. genaue beobachtungen – vermittelt in einer anspruchs­vollen sprache – lassen immer wieder die probleme und schwierigkeiten durchscheinen. dagegen stehen die chancen der zweisprachigkeit und des lebens mit zwei kulturen. ein buch, das sich auf einer ganz besondere art mit der thematik beschäftigt. schade, dass für die kroatischen textteile keine uebersetzung bereitsteht.

05.12.2019

david pfeifer: die rote wand

der vater wird zu den truppen eingezogen und lässt seine tochter zuhause zurück. sie aber beschliesst, ihn zu suchen und ihm zu folgen. so schneidet sie sich die haare und gibt sich bei der rekrutierungsbehörde als mann aus. damit gerät sie in diesen, sich immer mehr zu einem stellungskrieg entwickelnden konflikt. unter schlecht ausgerüsteten soldaten, oft tief im schnee und bei grosser kälte gilt es die front in den steilen, felsigen dolomiten zu halten. sie erlebt, wie viele ihrer kameraden durch direkte kriegshandlungen ums leben kommen oder schwer verletzt werden. nach langem findet sie ihren vater wieder. selbst verwundet endet ihr einsatz schliesslich vor dem kriegsende.
der damalige harte einsatz der tiroler truppen führte zum sieg über die italienischen angreifer, aber am ende des ersten weltkrieges musste das zerfallende kaiserreich oesterreich-ungarn das südtirol trotzdem an italien abtreten. dies und die schilderungen von nahkämpfen, granateneinschlägen, felsstürzen und lawinen, die immer wieder den tod mit sich bringen, lassen – ebenso wie die unverständlichen befehle der offiziere und der verlangte gehorsam – die sinnlosigkeit jeden krieges erkennen.
dieser schonungslose bericht über ein kriegsgeschehen lässt – basierend auf einer wahren begebenheit – den alltag der soldaten in schnee und eis, bei dauerndem mangel an essen und ausrüstung lebendig werden. erst im verlauf nimmt der roman an spannung und intensität auf und lässt einen gegen das ende kaum los. die beschreibungen der bergwelt und der unwirtlichen winterlichen verhältnisse machen die eisige kälte förmlich spürbar. vielleicht nicht unbedingt beabsichtigt vom autor, wird diese geschichte zu einem richtigen anti-kriegs-buch.