27.09.2021

madeleine bourdouxhe: auf der suche nach marie

marie und ihr mann jean sind glücklich verheiratet und verbringen die ferien am meer. auf einem strandspaziergang, den sie alleine macht, sieht sie einen jungen mann, von dem sie fasziniert ist. die beiden treffen sich, eine erotische affäre beginnt. die ferien sind zu ende, marie und jean kehren zurück nach paris. als jean beruflich drei tage wegfährt, trifft sich marie wieder mit dem anderen mann. aber sie bleibt bei jean und als er wegen seiner arbeit von paris wegziehen muss, folgt sie ihm. doch auch dann trifft sie sich noch ein weiteres mal mit dem liebhaber.
sehr genau beschreibt die autorin diesen widerspruch in marie, wie sie schwankt zwischen entschlossener treue und der zerrissenheit, die die erotischen gefühle für diesen anderen mann auslösen. ein emotional ergreifendes buch, das gefühlen nachgeht, die manche kennen. die weitgehend klar strukturierte sprache mit vielen kurzen sätzen führt zu einem speziellen leserhythmus und macht die geschichte so eindringlich und unmittelbar. die autorin hält sich mit nichts unnötigem auf. der text zeigt für seine zeit – in den 1930er-jahren geschrieben – ein überraschend modernes sittenbild. obschon es im wesentlichen die geschichte einer jungen frau ist, dürfte es auch für männer spannend zu lesen sein.


25.09.2021

pierre lemaitre: die farben des feuers

nach dem tod ihres vaters steht madeleine péricourt plötzlich alleine an der spitze der privatbank, von deren tätigkeit sie nichts versteht. der langjährige prokurist und vertraute mitarbeiter ihres vaters führt die geschäfte so, dass sie ihr vermögen weitgehend verliert und er in den besitz des bankhauses kommt. madeleine, die nun mit ihrem sohn beinahe verarmt und in den stand des kleinbürgertums absteigt, lässt sich dies aber nicht gefallen und plant einen rachefeldzug, der ein beachtliches ausmass annimmt. mit wenig legalen mitteln und unzimperlich holt sie sich – vor allem auch im interesse ihres sohnes – zurück, was ihr einst gehörte.
die menschen in diesem fulminanten roman schenken sich nichts, da geht es – zeitweise auch handgreiflich und brutal – wirklich zur sache: mit hinterlist und gewalt verfolgen alle ihre eigenen interessen. parallel dazu bilden emotionale und sensible momente ein gegengewicht. das gesell­schaftliche umfeld in der zeit kurz vor dem zweiten weltkrieg, in der die rolle der frau noch eine ganz andere war, bildet die kulisse zu dieser etwas abgründigen geschichte, die manchmal auch ein wenig dick aufgetragen daherkommt. spannend und virtuos geschrieben hält einen das buch bis zur letzten seite im bann.

17.09.2021

tomás gonzález: das spröde licht

david und sara sind mit ihren drei söhnen eine glückliche familie. als der älteste sohn jacobo bei einem verkehrsunfall schwer verletzt wird, ist nichts mehr wie vorher. von der brustwirbelsäule an abwärts ist er gelähmt. wegen seiner unerträglichen schmerzen, die es zu lindern nicht gelingt, entscheidet er sich seinem leben ein ende zu setzen. dafür muss er von new york nach oregon reisen. sein bruder begleitet ihn. in der letzten nacht vor seinem tod ist die familie zuhause versammelt und ist hin und her gerissen zwischen seinem entscheid und der hoffnung, er würde es doch nicht tun. dies alles erzählt david jahre später, als er wieder in seiner heimat kolumbien lebt, aus seiner erinnerung.
der geplante abschied löst andere emotionen aus als ein natürlicher tod. alle sind – auch wenn sie einander beistehen – letztlich allein mit ihren eigenen gefühlen. in einer klaren und unsentimentalen sprache erfahren wir von hoffnung und verzweiflung dieser menschen. das buch ist ein ganz spezieller beitrag zur diskussion um die sterbehilfe, weil es vor allem die angehörigen, die betroffenen familienmitglieder, ins zentrum stellt. es wird noch lange in mir nachhallen.

13.09.2021

michael köhlmeier: das mädchen mit dem fingerhut

das kleine mädchen, das alleine zwischen den leuten auf dem markt unterwegs ist, wird zunächst nicht beachtet. man gibt dem kind zu essen und zu trinken. von der sprache versteht es nichts, aber als das wort polizei fällt, beginnt es zu schreien und ergreift die flucht. später trifft es auf zwei jungen, die ebenso mittellos auf der strasse leben und schliesst sich ihnen an. gemeinsam versuchen sie zu überleben. als das mädchen erkrankt, wird es von einer älteren dame in ihr haus aufgenommen, gesundgepflegt und in der folge auch opfer ihrer machtausübung. eine gewalttätige befreiung aus dieser situation lässt die geschichte eskalieren und findet ein offenes – kein glückliches – ende.
ein buch, das all den kindern ein denkmal setzt, die unbegleitet auf der flucht in einem ihnen fremden land ankommen, wo niemand auf sie wartet. meisterhaft beschreibt der autor in einer klaren sprache nicht nur die kraft und den ueberlebenswillen der kinder, sondern auch die ambivalenz unserer gesellschaft zwischen mitleid, hilfe und macht. die stärke dieses textes ist dessen konzentriertheit und beschränkung aufs wesentliche. damit wird er so eindringlich.


10.09.2021

vladimir zarev: familienbrand

die geschichte beginnt vor dem 1. weltkrieg mit dem tod von assen weltschev, der seine frau petruniza mit vier sehr unterschiedlichen söhnen und einer tochter zurücklässt: jordan fällt im krieg, pento macht karriere als banker, christo begeistert sich für den sozialismus und ilija wird fabrikbesitzer. jonka, die tochter, legt karten und weiss in die zukunft zu sehen. die familie lebt in einer kleinstadt am unterlauf der donau. die wirtschaftskrise, die politischen veränderungen und der 2. weltkrieg bringen die familienmitglieder und deren nachkommen teilweise gegeneinander auf und doch sind und bleiben sie miteinander verbunden. mit dem einmarsch der roten armee verändert sich noch einmal alles.
das weitläufige familienepos vor dem hintergrund der geschichte bulgariens vermittelt viel über die lebensumstände in dieser ländlichen gegend. geburt und tod, armut und reichtum, macht und unterdrückung sind die zentralen themen. nicht einfach zu lesen, weil nicht nur sehr viele personen auftreten, sondern auch, weil es an einer dichten handlung und somit zeitweise auch an spannung fehlt. ueber beinahe 800 seiten dran zu bleiben und den ueberblick nicht zu verlieren, ist eine echte herausforderung. die reiche sprache und die teilweise unerwarteten beschreibungen von details, wie auch der karg vorkommende, spezielle humor, lohnen die lektüre gleichwohl.