28.05.2022

pier paolo pasolini: ragazzi di vita

riccetto ist einer der jungen aus einer römer vorstadt. er lebt wie die meisten seiner freunde in prekären verhältnissen. die realität ihres lebens entspricht weitgehend nicht ihren träumen. mit kleinkriminalität, strichertum, glücksspiel und anderen nicht legalen tätigkeiten versuchen sie sich jeweils etwas geld zu beschaffen, das dann gleich wieder ausgegeben wird. die jungen streunen oft hungrig und mittellos zwischen den vorstädten und dem zentrum roms mit wenig perspektiven umher.
der roman, der keine durchgehende handlung hat, zeichnet in einzelnen episoden ein anderes bild von italien, jenseits der tourismuswerbung, der guten küche und der schönen plätze in den innenstädten. alleine die schilderung der in den nachkriegsjahren schnell hochgezogenen aussenquartiere, wo der zerfall schon vor der fertigstellung einsetzt und wo sich das leben der menschen oft auf der strasse oder den brachliegenden feldern der umgebung stattfindet, macht dieses buch zu einem wichtigen dokument. ich werde es noch im italienischen original lesen müssen, weil ich den eindruck nicht loswerde, die uebersetzung vermöge dem slang der jugendlichen nicht gerecht zu werden.

19.05.2022

peter weibel: schneewand

drei menschen werden in einer berghütte von einem schneesturm überrascht. alles ist weiss und nebel zieht auf. bleiben oder den abstieg wagen? diese frage stellt sich ihnen. sie machen sich auf, verlieren die orientierung, treffen aber unterwegs auf einen schutzcontainer, in den sie sich flüchten können. sie versprechen sich gegenseitig zusammen zu bleiben, keine einzelaktionen zu machen. der raum ist nicht beheizbar und ihre nahrungsvorräte reichen nur für wenige tage. täglich wird es schwieriger zu überleben, trotz hunger und kälte geben sie die hoffnung auf eine rettung nicht auf. aufs existenzielle reduziert bleiben sie einander solidarisch verbunden.
auch wenn die drei zeitweise beinahe übermenschlich erscheinen, bleibt die erzählung realistisch und weiss mit ihrer klaren und nüchternen sprache die gefühle einer solchen extremsituation zu skizzieren. mit den wiederkehrenden perspektivenwechseln fügt sich der text zu einem komplexen und umfassenden bericht, den zu lesen eine ganz spezielle faszination auslöst.

14.05.2022

rafael seligmann: lauf, ludwig, lauf!

ludwig wächst in den 1920er-jahren mit seinen geschwistern in einer traditionellen jüdischen familie auf dem land auf. er ist ein guter schüler, besucht das gymnasium und spielt als stürmer in der heimischen fussballmanschaft. als sein vater schwer erkrankt, muss er die schule verlassen um eine lehre als kaufmann zu beginnen. er ist zwischen seinen eigenen ambitionen und den erwartungen seiner familie hin- und hergerissen. der patron seines lehrbetriebes würde ihn gerne als mitarbeiter behalten, doch er fühlt sich seiner familie verpflichtet, kehrt zurück und hilft im familieneigenen betrieb. der aufstieg der nationalsozialisten macht dem friedlichen zusammenleben von christen und juden ein ende. dem so heimatverbundenen ludwig bleibt letztlich nur die flucht mit seinem bruder zu einem onkel in die schweiz. später treffen sich verwandte und freunde in israel wieder, viele sind aber auch in deutschland geblieben und umgekommen.
der roman bietet einen eindrücklichen einblick auf das leben in der zwischenkriegszeit in deutschland mit den politischen verwerfungen der weimarer republik, der inflation und der grossen arbeitslosigkeit. bewegend wird das zerbrechen von freundschaften und sicherheiten beschrieben. auch wenn ludwig als genie und alleskönner daherkommt, was manchmal eher etwas unwahrscheinlich wirkt, bleibt er sympathisch und liebenswert. die figuren sind lebensnah beschrieben, was dem roman eine besondere lebendigkeit verleiht. nicht nur spannend, sondern trotz allem streckenweise auch vergnüglich zu lesen.


05.05.2022

anna burns: milchmann

sie ist 18 jahre alt, tochter aus einer grossen, etwas zerrütteten familie und lebt in einer gesellschaft, die von bürgerkriegsähnlichen zuständen gezeichnet ist. misstrauen prägt das leben aller: möglichst nicht auffallen um nicht ins visier einer der gegnerischen parteien zu geraten. da passt es schlecht, dass der 23 jahre ältere milchmann ein auge auf sie wirft und eine beziehung mit ihr anfangen will. argwöhnisch beobachten nachbarn, verwandte und freunde das geschehen; gerüchte machen schnell die runde, sie lasse sich mit einem mann von der gegnerischen seite ein. dazu geht ihre aktuelle, etwas ungewisse beziehung zu einem jungen mann in die brüche. und dann ist sie plötzlich auch für ihre drei kleineren schwestern verantwortlich, weil ihre mutter sich aufopfernd um einen verletzten mann kümmert, den sie liebt. der milchmann wird ermordet, was eigentlich das zentrale problem der jungen frau auf einen schlag lösen sollte, aber dem ist nicht so.
auch wenn es nie erwähnt wird, ist man schnell an die situation in nordirland in den 1990er-jahren erinnert. eindrücklich und genau wird hier das leben in einer in zwei lager getrennten stadt beschrieben. alle misstrauen einander, jeder und jede äussert sich vorsichtig unbekannten gegenüber. die eher spärliche handlung scheint eher als hintergrund zu dienen, vor dem sich die komplizierten lebensumstände, die vielen verhaltens- und denkweisen der menschen abspielen. die analytisch genaue schilderung von alltagssituationen und konflikten geben diesen ein zentrales gewicht im roman. zudem widmet sich die autorin im besonderen diesem männlich dominierten milieu, in dem frauen immer wieder opfer von uebergriffen sind oder marginalisiert werden. aber sie zeigt auch auf, wie mutige frauen im von gewalt dominierten zusammenleben vermittelnd und deeskalierend wirken können. der insgesamt sehr dichte und nicht einfache text erfordert eine hohe konzentration beim lesen. es lohnt sich, auch wenn es nicht immer leicht fällt, bis zum ende durchzuhalten.