riccetto ist einer der jungen aus einer
römer vorstadt. er lebt wie die meisten seiner freunde in prekären
verhältnissen. die realität ihres lebens entspricht weitgehend
nicht ihren träumen. mit kleinkriminalität, strichertum,
glücksspiel und anderen nicht legalen tätigkeiten versuchen sie
sich jeweils etwas geld zu beschaffen, das dann gleich wieder
ausgegeben wird. die jungen streunen oft hungrig und mittellos
zwischen den vorstädten und dem zentrum roms mit wenig perspektiven
umher.
der roman, der keine durchgehende
handlung hat, zeichnet in einzelnen episoden ein anderes bild von
italien, jenseits der tourismuswerbung, der guten küche und der
schönen plätze in den innenstädten. alleine die schilderung der in
den nachkriegsjahren schnell hochgezogenen aussenquartiere, wo der
zerfall schon vor der fertigstellung einsetzt und wo sich das leben
der menschen oft auf der strasse oder den brachliegenden feldern der
umgebung stattfindet, macht dieses buch zu einem wichtigen dokument.
ich werde es noch im italienischen original lesen müssen, weil ich
den eindruck nicht loswerde, die uebersetzung vermöge dem slang der
jugendlichen nicht gerecht zu werden.
28.05.2022
pier paolo pasolini: ragazzi di vita
19.05.2022
peter weibel: schneewand
auch wenn die drei zeitweise beinahe übermenschlich erscheinen, bleibt die erzählung realistisch und weiss mit ihrer klaren und nüchternen sprache die gefühle einer solchen extremsituation zu skizzieren. mit den wiederkehrenden perspektivenwechseln fügt sich der text zu einem komplexen und umfassenden bericht, den zu lesen eine ganz spezielle faszination auslöst.
14.05.2022
rafael seligmann: lauf, ludwig, lauf!
ludwig wächst in den 1920er-jahren mit
seinen geschwistern in einer traditionellen jüdischen familie auf
dem land auf. er ist ein guter schüler, besucht das gymnasium und
spielt als stürmer in der heimischen fussballmanschaft. als sein
vater schwer erkrankt, muss er die schule verlassen um eine lehre als
kaufmann zu beginnen. er ist zwischen seinen eigenen ambitionen und
den erwartungen seiner familie hin- und hergerissen. der patron
seines lehrbetriebes würde ihn gerne als mitarbeiter behalten, doch
er fühlt sich seiner familie verpflichtet, kehrt zurück und hilft
im familieneigenen betrieb. der aufstieg der nationalsozialisten
macht dem friedlichen zusammenleben von christen und juden ein ende.
dem so heimatverbundenen ludwig bleibt letztlich nur die flucht mit
seinem bruder zu einem onkel in die schweiz. später treffen sich
verwandte und freunde in israel wieder, viele sind aber auch in
deutschland geblieben und umgekommen.
der roman bietet einen eindrücklichen
einblick auf das leben in der zwischenkriegszeit in deutschland mit
den politischen verwerfungen der weimarer republik, der inflation und
der grossen arbeitslosigkeit. bewegend wird das zerbrechen von
freundschaften und sicherheiten beschrieben. auch wenn ludwig als
genie und alleskönner daherkommt, was manchmal eher etwas
unwahrscheinlich wirkt, bleibt er sympathisch und liebenswert. die
figuren sind lebensnah beschrieben, was dem roman eine besondere
lebendigkeit verleiht. nicht nur spannend, sondern trotz allem
streckenweise auch vergnüglich zu lesen.
05.05.2022
anna burns: milchmann
sie
ist 18 jahre alt, tochter aus einer grossen, etwas zerrütteten
familie und lebt in einer gesellschaft, die von bürgerkriegsähnlichen
zuständen gezeichnet ist. misstrauen prägt das leben aller:
möglichst nicht auffallen um nicht ins visier einer der gegnerischen
parteien zu geraten. da passt es schlecht, dass der 23 jahre ältere
milchmann ein auge auf sie wirft und eine beziehung mit ihr anfangen
will. argwöhnisch beobachten nachbarn, verwandte und freunde das
geschehen; gerüchte machen schnell die runde, sie lasse sich mit
einem mann von der gegnerischen seite ein. dazu geht ihre aktuelle,
etwas ungewisse beziehung zu einem jungen mann in die brüche. und
dann ist sie plötzlich auch für ihre drei kleineren schwestern
verantwortlich, weil ihre mutter sich aufopfernd um einen verletzten
mann kümmert, den sie liebt. der milchmann wird ermordet, was
eigentlich das zentrale problem der jungen frau auf einen schlag
lösen sollte, aber dem ist nicht so.
auch
wenn es nie erwähnt wird, ist man schnell an die situation in
nordirland in den 1990er-jahren erinnert. eindrücklich und genau
wird hier das leben in einer in zwei lager getrennten stadt
beschrieben. alle misstrauen einander, jeder und jede äussert sich
vorsichtig unbekannten gegenüber. die eher spärliche handlung
scheint eher als hintergrund zu dienen, vor dem sich die
komplizierten lebensumstände, die vielen verhaltens- und denkweisen
der menschen abspielen. die analytisch genaue schilderung von
alltagssituationen und konflikten geben diesen ein zentrales gewicht
im roman. zudem widmet sich die autorin im besonderen diesem männlich
dominierten milieu, in dem frauen immer wieder opfer von uebergriffen
sind oder marginalisiert werden. aber sie zeigt auch auf, wie mutige
frauen im von gewalt dominierten zusammenleben vermittelnd und
deeskalierend wirken können. der insgesamt sehr dichte und nicht
einfache text erfordert eine hohe konzentration beim lesen. es lohnt
sich, auch wenn es nicht immer leicht fällt, bis zum ende
durchzuhalten.