21.04.2023

jon fosse: der andere name

asle ist ein maler, der verwitwet alleine in einem dorf in norwegen lebt. der nachbar åsleik und der galerist beyer sind seine einzigen näheren bezugspersonen. er ist damit beschäftigt, seine malerei immer weiter zu entwickeln, er malt zunehmend abstrakt und beschäftigt sich mir der wirkung des lichts. eines abends, unterwegs zu seinem galeristen, trifft er auf einen im schnee liegenden betrunkenen mann. er bringt ihn zum arzt, der ihn ins spital einweist. plötzlich fühlt sich asle verantwortlich und kümmert sich während dessen spitalaufenthalt um den hund des betrunkenen.
ein sehr philosophisches werk ohne wirklich grosse handlung. das aufeinandertreffen mit einem menschen, der zudem auch den gleichen namen und den gleichen beruf hat, aber ein so viel schlechteres leben führt, löst beim hauptprotagonisten gedanken über sein eigenes leben aus. er setzt sich mit vielem auseinander, das bisher wie selbstverständlich war und stellt es in frage. ohne abgeschlossene sätze leitet der text in einem nicht versiegenden fluss durch die geschichte. das übt eine eigenartig faszinierende stimmung aus, hält trotz oder vielleicht wegen der vielen sich wiederholenden beschreibungen eine unerklärliche spannung, bleibt aber bis zum schluss ein schwieriges buch, das eine eher traurige stimmung in sich trägt.

13.04.2023

kim de l'horizon: blutbuch

autobiografisch berichtet die erzählende person über kindheit, jugend und erwachsenwerden. die flucht aus dem kleinstädtischen vorortsmilieu in die grosse stadt wird zum beginn der eigenen befreienden selbstfindung. durch briefe und gespräche manifestiert sich die wichtige beziehung zur grossmutter. anfänglich bestehen grosse schwierigkeiten, die eigenen wahrheiten und empfindungen ihr gegenüber zu erzählen. mit der zunehmenden demenz der grossmutter wird dies leichter. immer mehr sich selbst sein, immer mehr sich versöhnen mit dem eigenen, früher verhassten körper ist ein schwieriger aber letztlich gelingender prozess, aus dem ein selbstbewusster und selbstverständlich lebender mensch wird.
was für ein buch – zurecht gewinnt es preise!! schnell tauchte ich in diesen berührenden und vereinnahmenden text ab, der eine schwer zu beschreibende faszination auslöste. der sehr persönliche zugang, dieses ehrliche, ungeschminkte schreiben über das nichtbinärsein, über träume, sexuelle gewalt und zärtlichkeit lässt einen diese realität wie sonst kaum etwas fühlen. die blutbuche im heimatlichen garten und die verschwindenden alten wörter der muttersprache – reminiszenzen an die jugendzeit – vermitteln heimat und geborgenheit, geben halt im wechselvollen neuen alltag. die dichte, genderbalancierte sprache mit oft so treffenden und verwegenen wortschöpfungen, die auch unbeschreibliches klar darstellen, tragen viel zum verständnis der fragen um die geschlechteridentität bei. und immer wieder liessen die beschreibungen aufflammender zweifel, unsicherheiten und selbstablehnung mir tränen in die augen steigen. eines der bücher, an dessen lektüre ich mich immer erinnern werde.

04.04.2023

usama al shahmani:
der vogel zweifelt nicht am ort, zu dem er fliegt

während seinen wanderungen in der natur denkt dafer über sein leben nach. er musste aus dem irak flüchten, weil eines seiner theaterstücke dem regime sadam husseins missfiel. nun lebt er in der schweiz, hat eine eigene wohnung und eine befristete aufenthaltsgenehmigung. in seiner heimat hat er ein studium abgeschlossen, hier arbeitet er als tellerwäscher in einem restaurant. in seinen gedanken lässt er die flucht und das leben in den asylunterkünften revue passieren, denkt zurück an seine familie und macht sich gedanken um seine zukunft. das wandern in der natur gibt ihm etwas von der ruhe zurück, die er verloren zu haben glaubt.
in einer ruhigen sprache, mit genauen beobachtungen und wertfrei vermittelt der autor die gedanken und betrachtungen von dafer. damit ermöglicht er einen berührenden einblick in das leben eines menschen, der unter lebensgefahr seine heimat verlassen und nach der gefährlichen flucht schliesslich den prozess des schweizerischen asylwesens durchlaufen musste. das buch, das sich mit seinen feinfühligen, differenzierten beschreibungen weit entfernt von autobiografischer betroffenheitsliteratur befindet, ist ein wichtiger beitrag zur zu oft einseitig geführten flüchtlingdebatte.

01.04.2023

tabea koenig: die verlegerin von paris

nachdem die literarisch interessierte lizzie 1921 ihren mann verlassen hat, begegnet ihr die mutter in london nur mit ablehnung und unverständnis. die gelegenheit, ihren früheren hauslehrer nach paris zu begleiten, nutzt sie um dort zu bleiben und ein selbständiges leben zu führen. bald freundet sie sich mit der buchhändlerin silvie und deren freundin an und hilft den beiden in ihrem geschäft. so findet sie sich in einer liberalen, fortschrittlich denkenden literaturszene wieder. da trifft sie auf amélie – die beiden verlieben sich ineinander. im gegensatz zu den strengen regeln zuhause, fühlt sie sich hier frei, wirklich das zu tun, was sie will. engagiert mit viel fleiss macht sie ihren wunsch wahr, selbst als verlegerin tätig zu sein. zudem kommt sie einem gut gehüteten geheimnis auf die spur, das alles bisherige verändert.
ein fantasievoller roman führt uns in die französische hauptstadt, wo in jenen jahren beinahe alles möglich zu sein schien: freies denken, gleichgeschlechtliche liebe, tiefgründige diskussionen und nächtliche gelage. auf einem historischen hintergrund entfaltet sich eine geschichte, die so gewesen sein könnte. blumige und reichhaltige schilderungen dominieren diesen text, der zuweilen etwas gewagte sprünge macht und abenteuerliche zusammenhänge herstellt. uebersichtlich trotz der vielen personen, die sehr treffend beschrieben werden, liest sich das buch leicht und fängt die stimmung jener zeit in paris gut ein.