nach
einem langen, harten leben als putzfrau und fabrikarbeiterin muss die
mutter von didier eribon in einem pflegeheim untergebracht werden.
dieser moment lässt den autor nicht nur ihr leben überdenken, das
von armut und einem gewalttätigen ehemann gezeichnet war, sondern er
realisiert auch, wie sie nun von ihrem alten leben getrennt und auf
den aufenthalt in einem zimmer reduziert ist. entmündigung und
vereinsamung sind unweigerliche folgen. zudem wird er mit den
miserablen zuständen in diesem heim konfrontiert. dies lässt ihn
darlegen, wie skandalös pflegebedürftige, abhängige alte von der
politik und der gesellschaft vernachlässigt werden.
das
schicksal der mutter wird zum exemplarischen beispiel für
weitläufige philosophische und soziologische betrachtungen des
autors. sehr persönlich und
emotional vermittelt er die
konkreten passagen über ihr leben.
das erfassen der komplexen, wissenschaftlichen und sehr dichten texte
erfordert viel konzentration. immer
mehr weichen die konkreten
schilderungen seiner beziehung zur mutter
den theoretischen ausführungen
in einem hohen abstraktionsbereich. dies illustriert auch den
persönlichen abschied.
29.11.2024
didier eribon: eine arbeiterin
22.11.2024
orhan pamuk: das stille haus
fatma bewohnt zurückgezogen mit ihrem
diener recep ein stilles, altes, langsam verfallendes haus. während
ihr verstorbener ehemann ein fortschrittlich denkender, weltoffener
wissenschaftler war, verharrt sie in ihrer eigenen zutiefst
konservativen welt. mit den aus istanbul anreisenden zwei enkeln
faruk und metin und der enkelin nilgün kommt den sommer über leben
ins haus. sie treffen auf jugendliche aus dem dorf, mit denen es
konflikte entlang der politischen lager gibt. die kommunisten haben
sich dem fortschritt verschrieben, die nationalisten halten es mit
der tradition und dem türkentum. die eher herrische fatma misstraut
allen, nicht zuletzt auch deshalb, weil die jungen gerne ihr haus
abreissen und einen neubau errichten möchten. dazwischen steht der
nicht selten in loyalitätskonflikte geratende recep, der immer
wieder vermitteln muss. recep ist einer der ausserehelichen söhne
ihres verstorbenen mannes.
diese geschichte in der türkei der
frühen 1980er-jahre zwischen moderne und tradition wird aus der
ich-perspektive von verschiedenen personen erzählt. nicht nur die
etwas verworrenen familienverhältnisse sondern auch die politischen
polarisierungen bergen immer wieder neue konflikte. interessant sind
vor allem die beschreibungen der herrschaftsverhältnisse und der
politischen strömungen. das ganze ist etwas kompliziert geschrieben
und hat keine durchgehende handlung, was es mir schwer machte, bis
zum schluss dranzubleiben.
12.11.2024
zora del buono: seinetwegen
sie hat ihren vater nie kennengelernt:
als er bei einem autounfall ums leben kam, war sie noch kein jahr
alt. erst später, als längst erwachsene frau, beginnt sie sich mit
dem hergang des unfalls zu befassen, will wissen, wer der andere, der
schuldige fahrer war. sie besucht den ort des tragischen ereignisses,
geht in alten zeitungsmeldungen und archiven hinweisen nach. immer
wieder scheint sie nicht mehr weiterzukommen, immer wieder öffnet
sich eine türe, trifft sie jemanden, der ihr weitere hinweise gibt.
schliesslich schafft sie es: sie findet die identität des
unfallverursachers heraus, jedoch ist er zu dem zeitpunkt bereits
gestorben. was sie von zeitzeugen erfährt, lässt ein unerwartetes
bild von diesem mann entstehen. gerne würde sie ihre mutter fragen,
weshalb sie so vieles verschwiegen hat, aber ihre mutter ist dement.
zum schluss liegen die tatsachen weitgehend offen, versöhnliche
gedanken und ruhe treten ein.
diese autobiografische geschichte über
das aufarbeiten eines familiengeheimnisses spricht vieles an. nicht
alles ist zentral, gedankensprünge und abrupte szenen- oder
zeitwechsel fordern einen beim lesen etwas heraus. viele
philosophische gedanken zu schuld und unschuld, leben und tod,
ersetzen eine durchgehende handlung, und dies, ohne dass die spannung
verloren ginge.
07.11.2024
ferndando aramburu: patria
in einem baskischen dorf leben zwei
einst eng befreundete ehepaare: bittori und txato wesentlich
wohlhabender als miren und joxian. deren ältester sohn schliesst
sich der untergrundorganisation eta an. txato wird opfer eines
anschlages der eta. die angehörigen des opfers werden im dorf
ausgegrenzt, aber bittori kehrt nach einer gewissen zeit ins dorf
zurück, denn sie will herausfinden, wer ihren mann erschossen hat.
ohne dass darüber gesprochen würde, weiss man wer auf welcher seite
in diesem konflikt steht. für viele jugendliche ist es nur möglich,
dem druck zu entgehen, indem sie wegziehen. so suchen auch die
anderen kinder der beiden paare auf unterschiedliche weise ihren weg.
nach dem ende des kampfes der eta gehen die menschen langsam wieder
aufeinander zu: es beginnt eine zeit der versöhnung.
in über 120 kurzen kapiteln setzt sich
das bild einer ländlich geprägten baskischen gesellschaft
mosaikartig zusammen. auf eine ganz besondere weise versteht es der
autor die stimmung in der aktiven zeit der eta wiederzugeben. alle
stehen dauernd unter gegenseitiger beobachtung. familieninterne
konflikte treten bei bedrohungen von aussen immer wieder in den
hintergrund. die rolle des spanischen zentralstaates und der einfluss
der römisch-katholischen kirche tragen zudem zum gesamten bild bei.
dies alles bildet den politischen kampf jener zeit auf eine
eindrückliche weise ab. nicht nur den opfern, sondern auch den
tätern wird rechnung getragen. der roman ist ein machtvolles,
überzeugendes werk, das nicht nur die geschichte eines
minderheitenvolkes erklärt und gleichzeitig exemplarisch den
schicksalen einzelner menschen nachgeht, sondern auch extrem spannend
zu lesen ist.