28.08.2016

elif shafak: der bastard von istanbul

asya lebt als uneheliche tochter mit ihren vier tanten und zwei grossmüttern in einem reinen frauenhaushalt in istanbul. wer der vater von asya ist, bleibt ein geheimnis, bis sich eines tages armanoush, die stieftochter von asays onkel, aus amerika anmeldet. sie hofft in istanbul mehr über die familie ihres armenischen vaters und deren herkunft zu erfahren. bald finden sich asya und armanoush gemeinsam auf der suche nach antworten. vor dem hintergrund der armenierverfolgung anfangs des 20. jahrhunderts entsteht das bild einer familiengeschichte, die überraschende wendungen nimmt.
nebst den komplexen und schwierigen familienverhältnissen der beiden jungen frauen lebt die geschichte vor allem auch von den bildhaft beschriebenen skurrilen figuren, die stellvertretend für die ganze bandbreite der türkischen und armenischen gesellschaft stehen dürften.
spannend als familienepos, aber ebenso als geschichtliches dokument, schafft es dieses buch zu ver­mitteln, wie schwierig der umgang mit der geschichte der armenier im osmanischen reich ist.

27.08.2016

didier eribon: rückkehr nach reims

der autor, heute ein französischer intellektueller und soziologieprofessor, wächst in einer armen arbeiterfamilie in reims auf. es ist schon ausserordentlich, dass er nicht – wie in diesem milieu üblich - mit 14 jahren die schule verlässt, um in der fabrik zu arbeiten, sondern das gymnasium besucht. um seine studien- und berufsziele zu verwirklichen, aber auch um endlich seine homosexualität zu leben, trennt er sich früh vollständig von seiner familie und geht nach paris.
nach dem tod seines vaters kehrt er zum ersten mal zurück zu seiner mutter und muss feststellen, dass seine familie, die bisher immer kommunistisch gewählt hat, sich nun dem front national zuwendet.
die eher knapp gehaltene biografie bildet den hintergrund für eine fundierte und reflektierte analyse der gesellschaftlichen gegebenheiten im heutigen frankreich. ein anspruchsvolles buch mit einem komplexen vokabular, das dem lesenden trotzdem einen verständlichen einblick in die sozialstruktur der französischen gesellschaft gibt.

26.08.2016

petra ivanov: geballte wut

als sohn reicher eltern mangelt es sebastian finanziell an nichts. freunde hat er aber kaum und in der schule läuft es auch nicht gut, einzig beim billard spielen ist er unschlagbar. dabei lernt er auch isabella kennen, in die er sich verliebt. isabella und ihr cousin haben aber ganz andere ziele. bis sebastian dies realisiert, geht es schon unaufhaltsam abwärts, bis es zur katastrophe kommt.
mit einer einzigartigen präzision beschreibt die autorin die gefühlswelt von sebastian, dessen geschichte exemplarisch angenommen werden kann. trotz seines gewaltpotenzials, seiner kriminellen energie und seinen taten, steht man beim lesen immer emotional auf seiner seite. die geschichte beginnt mit der gerichtsverhandlung und wird aus der retrospektive erzählt. spannend von der ersten bis zur letzten seite, konnte ich das lesen des buches kaum unterbrechen.

21.08.2016

davide longo: der steingänger

in einem bergtal im piemont, nahe der französischen grenze, leben menschen, deren familien seit jahrhunderten hier ansässig sind, jeder ist irgendwie mit jedem verwandt. das karge einkommen aus der berglandwirtschaft wird seit zeiten durch schmugglerdienste aufgebessert. heute werden flüchtlinge nach frankreich geschleust. nach dem mord an einem einheimischen geht die geschichte der frage nach, was passiert ist und findet eine unerwartete und überraschende auflösung.
die zu anfang etwas kompliziert scheinenden verhältnisse der verschiedenen leute machen den einstieg beim lesen nicht ganz einfach, bald aber findet man sich in einer archaischen welt, die einen von kapitel zu kapitel mehr gefangen nimmt. trotz der farbenreichen beschreibung von landschaft und lebens­verhältnissen, die einen einblick in eine in sich sehr geschlossene und von ihrer armut geprägten gesellschaft geben, bleibt die handlung spannend bis zum schluss. für mich war das buch eine echte entdeckung.

19.08.2016

rudolf bussmann: ein duell

ottavio und juan sind gemeinsam zur schule gegangen, waren enge freunde, bis sie die liebe zur gleichen frau trennt. viele jahre später treffen sie sich wieder. ottavio erzählt aus seinem leben, vor allem von seiner grossen liebe zu einer fotografin aus ostberlin, die er in paris kennenlernt. mit einem tagesvisum besucht er sie dort und bleibt bei ihr, bis sie wegen ihrer schweren erkrankung stirbt.
die anspruchsvolle, detailreiche geschichte kommt etwas verschachtelt daher. der einzigartig schöne umgang mit der sprache verleitete dazu, mich mehr darauf zu konzentrieren. es ist mir nicht leicht gefallen, den ueberblick über die handlung nicht zu verlieren.

15.08.2016

irena brežná: die undankbare fremde

mit 18 jahren als flüchtling in ein neues land zu kommen ist nicht einfach. auflehnung und widerstand gegen das leben in der neuen heimat prägen den anfang. viel zeit braucht die protagonistin, bis sie sich mit der veränderung versöhnt. viel später, längst angekommen und integriert, arbeitet sie als dolmetscherin für neu ankommende flüchtlinge.
in wechselnden kapiteln schreibt die ich-erzählerin einerseits die eigene geschichte, das hadern und die schwierigkeiten auf ihrem weg, andererseits geschichten von anderen menschen, die sie als uebersetzerin erfährt.
diese gegenüberstellung macht das buch lebendig, relativiert eigenes erleben und das der anderen.
aber auch von den schwierigkeiten, bei dieser arbeit seiner eigenen geschichte wieder zu begegnen und damit immer wieder sich selbst und den selbst gegangenen weg in frage stellen zu müssen, berichtet sie.
ein spannendes buch, das aktueller nicht sein könnte.

10.08.2016

catalin dorian florescu: zaira

von der geburt zairas an wird ihre ganze lebensgeschichte erzählt. reichtum und armut, liebe und verrat bestimmen das leben der beliebten puppenspielerin. nach langen jahren des exils in den usa kehrt sie zurück nach rumänien um traian wieder zu treffen, den einzigen mann, den sie je geliebt und nie vergessen hat. seinem haus gegenüber sitzt sie tag für tag in einem café und wagt es nicht, hinüberzugehen und zu klingeln.
ein wunderbarer und bewegender roman, der ein schicksal nachzeichnet, wie es in jener zeit viele gab. eindrücklich beschreibt der autor, wie bei der enteignung der familie nicht nur die materiellen werte verloren gehen, sondern der gesamte gesellschaftliche konsens in die brüche geht. aber nicht nur die handlung fasziniert, auch die präzise gezeichneten menschen tragen dazu bei ein bild entstehen zu lassen, das einen nicht so schnell loslässt.