31.05.2018

alain claude sulzer: die jugend ist ein fremdes land

das buch ist weder autobiografie noch roman. in kurzen kapiteln entsteht ein kaleidoskop von humorvollen, witzigen, manchmal aber auch traurigen geschichten aus der kindheit und jugend des autors. aus der perspektive eines gelassenen erwachsenen erzählt, behält trotzdem alles das gewicht und die ernsthaftigkeit, die es damals hatte.
diese jugendgeschichten sind für mich vor allem spannend zu lesen gewesen, weil ich beinahe gleich alt bin und gleiches und ähnliches einige kilometer weiter südlich erlebt habe. da setzt wehmut ein, kommen aha-erlebnisse auf und es wird bewusst, welch starke veränderung die gesellschaft und deren wertehaltung innerhalb eines halben jahrhunderts erfahren hat.

23.05.2018

jan stressenreuter: mit seinen augen

felix und manfred leben mit ihrem hund in einem reihenhaus – ihre beziehung hat nach zehn jahren etwas an spannung verloren. nach dem tod der mutter findet felix auf dem dachboden eine truhe. darin sind fotos, briefe und tagebücher seines früh verstorbenen vaters und er entdeckt, dass auch sein vater eine liebesbeziehung zu einem mann hatte. er beginnt die suche nach diesem freund und findet ihn. die erinnerung an seinen vater wird entzaubert. während dieser zeit findet die beziehung zu manfred einen neuen hoffnungsvollen anfang.
die geschichte gibt einen blick frei in die 1950er-jahre, als homosexuelle handlungen zwischen erwachsenen in deutschland noch strafbar waren. vor dem hintergrund dieser von bürgerlich-konservativen werten dominierten nachkriegszeit öffnet sich eine tragische familiengeschichte, in der der junge vater letztlich zerbricht. das bedürfnis von felix mehr über seinen vater zu erfahren wird packend und unsentimental beschrieben. einmal begonnen lässt sich dieser spannende und tiefgründige roman kaum noch aus der hand legen, ganz zu schweigen, von den emotionen, die er auslöst.

21.05.2018

jens steiner: carambole

in zwölf kapiteln kommen verschiedene menschen und ereignisse vor, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben. da gibt es wilde jugendliche, kauzige alte, zerstrittene brüder, alle leben sie am gleichen ort. alles geht seinen gang, nichts scheint sich zu ändern und auch ein grauenhafter fund bringt nur eine kurze vorübergehende unruhe ins dorf, bald kehrt die alte routine und gleichgültigkeit wieder ein.
schon der einstieg ins buch ist nicht einfach. die collageartige abfolge von kapiteln, deren zusammenhang sich mir nicht wirklich erschliesst und das fehlen einer durchgehenden handlung stellt einen beim lesen vor eine herausforderung. nur ein kapitel ist von solch sprachlicher brillanz, dass es sich von den andern spürbar abhebt.

14.05.2018

klaus cäsar zehrer: das genie

william james sidis kann bereits im alter von zwei jahren lesen und wird von der amerikanischen presse anfangs des 20. jahrhunderts als wunderkind gefeiert. sein vater boris, ein ukrainischer einwanderer, ist psychologe und experimentiert an seinem sohn mit einer erziehungsmethode, von der er glaubt, alle kinder entwickelten sich danach zu genies. zwar kann william komplexe mathematische probleme lösen und hat ein phänomenales gedächtnis, aber er scheitert im leben. als jugendlicher beginnt er sich gegen seine eltern aufzulehnen und verweigert nicht nur den militärdienst, sondern auch den gebrauch seiner fähigkeiten. seine sozialistischen erkenntnisse und sein kampf für eine gerechtere welt scheitern genau so, wie seine grosse liebe.
dieser historisch belegte roman der lebensgeschichte eines ausserordentlichen, aber auch zu tiefst unglücklichen menschen liest sich nicht immer ganz einfach. die streckenweise grosse detail­versessenheit des autors führt oft zu längen und lässt einen die spannung vermissen. trotz der vielen beschreibungen ergibt sich beim lesen kein klares bild von william. der hass auf seine eltern und die beziehung zu seiner einzigen schwester bleiben diffus. die emotionale seite dieses lebens bleibt hinter dem sachlichen bericht zurück. es bleibt letztlich der eindruck, eher eine journalistische berichterstattung, denn einen roman gelesen zu haben.

08.05.2018

john von düffel: houwelandt

jorge lebt mit seiner frau schon seit jahren in spanien und ist der meinung, sein sohn thomas habe im leben völlig versagt. thomas ist etliche male gescheitert und hat letztlich als hausmann, seinen eigenen sohn christian grossgezogen. christian hält sich möglichst fern von seiner familie und führt sein eigenes leben. und nun wird jorge achtzig jahre alt und seine frau plant ein grosses fest, in dem sich die familie wieder vereinigen soll.
diese familiengeschichte, in der die abgründe von verwandtschaftsbeziehungen treffend beschrieben werden, wächst zu einem abbild des wohlstandes unserer zeit an. die ansprüche einer generation auf die nächste und deren nichterfüllung – aus unterschiedlicher sicht beleuchtet – geben ein eindringliches bild von abhängigkeit und befreiung aus den zwängen der familie. trotz des ernstes und der heftigkeit der thematik leicht und spannend zu lesen.