23.02.2019

lukas linder: der letzte meiner art

alfred ist der jüngste und letzte sohn einer patrizierfamilie mit einer langen ahnentafel. aber die guten zeiten sind längst vorbei. seine mutter ist ziemlich verschroben, der vater spielt eine nebenrolle. alfreds älterer bruder ist die grosse hoffnung, doch der verfolgt in seinem leben andere ziele. so wird alfred gewahr, dass er die familientraditionen weiterführen muss. er will ein held werden, nach dem vorbild seines damaligen urahnen, der in der schlacht von marignano vierzig franzosen erschlagen hat. aber die bestrebungen alfreds gelingen nicht wirklich: er ist nicht zum helden geboren.
die zeitweise recht abstruse geschichte alfreds ist köstlich und voll von ueberraschungen. präzis und humorvoll werden seine vermeintlichen heldentaten geschildert. im ersten starken teil des romans wird vor allem die familie und deren geschichte beschrieben, zeitweise karikiert, ohne despektierlich zu sein. gegen ende des buches geht die spannung leider etwas verloren, alfreds beziehungsgeschichte mit ruth, die immer mehr ins zentrum rückt, hat nicht mehr die gleiche leichtigkeit und wirkt manchmal unbestimmt und ziellos.

13.02.2019

édouard louis: wer hat meinen vater umgebracht

als édouards vater einen arbeitsunfall erleidet, verliert er seine stelle und wird letztlich abhängig von der sozialhilfe. die politischen entscheide der regierungen kürzen die unterstützung und er wird gezwungen eine arbeit anzunehmen, die in seiner situation nicht zumutbar ist. das frühere schwierige verhältnis zum vater, der ihn ablehnte und nicht zu verstehen schien, erscheint heute in einem anderen licht. édouard louis wendet sich der geschichte seines vaters tief bewegt zu und entwickelt eine unerwartete solidarität zu ihm.
diese persönliche geschichte handelt nicht nur von der aussöhnung mit dem vater, sondern hat auch eine konsequenz im politischen denken. zornig und ungeschminkt beschreibt der autor, wie die aermsten und armen um das wenige gebracht werden, das sie noch haben.

12.02.2019

sabine bode: das mädchen im strom

jung, schön und etwas hedonistisch – das ist gudrun, deren lebensgeschichte hier erzählt wird. schon während der schulzeit ist sie glücklich mit martin, ihrer ersten grossen liebe. dem paar scheint in den 1930er-jahren in mainz nichts im wege zu stehen. wegen der politischen verhältnisse ist ihre jugendfreundin margot bereits in die vereinigten staaten emigriert. die immer lauter werdenden nazis werden von gudruns jüdischer familie mehr oder weniger als vorübergehende erscheinung eingestuft. aber es kommt anders. gudrun gelingt es gerade noch deutschland zu verlassen, strandet mit vielen anderen flüchtlingen in shanghai, ihr vater bringt sich am tag vor seiner deportation um, ihre mutter wird in treblinka ermordet. nur dank ihrer stärke und ihrem wagemut überlebt gudrun die odyssee der emigration, muss viele kompromisse machen und prinzipien über bord werfen. nach ende des krieges beginnt sie in london ein weiteres mal ihr leben aufzubauen. später zurückgekehrt ins zerstörte mainz trifft sie auf frühere bekannte, die sich ihr gegenüber verhalten als wäre nichts gewesen. in einem prozess gegen einen früheren gestapo-mann, der sie damals verhaftet und sie sehr anständig behandelt hatte, sagt sie auf seine bitte hin als zeugin aus. und nach vielen jahren in denen nur brieflicher kontakt mit margot möglich war, gibt es ein emotionales wiedersehen.
in diesem überzeugenden und in sich stimmigen roman erhalten die vielen flüchtlingsschicksale, die sonst in der masse oft anonym bleiben, ein gesicht. am stärksten wird der roman gegen ende, als gudrun auf die früheren bekannten trifft. diese ganze geschichte steht stellvertretend für unzählige schicksale von verfolgten des nationalsozialismus und macht durch diese direktheit auf eine ganz besondere weise betroffen. es ist ein – beim gewicht des themas – erstaunlich leicht daherkommendes buch.

06.02.2019

therese bichsel: die walserin

als zu beginn des 14. jahrhunderts der karge boden des dorfes nicht mehr für alle zur lebensgrundlage reicht, wandern ein paar familien aus. weit hinten im lauterbrunnental beginnt der entbehrungsreiche aufbau einer neuen siedlung. unter den siedlern ist barbara, die – kaum schwanger – schon witwe wird. sie zieht ihren sohn alleine gross und dient der gemeinschaft als heilkundige und hebamme.
im 19. jahrhundert ereilt ihre nachfahren ein ähnliches schicksal. wieder ist es hunger und armut, die sie zur auswanderung treibt. in armenien und georgien finden sie ein neues auskommen, bringen es zu wohlstand, verlieren aber nach der oktoberrevolution alles und müssen weiterziehen.
diesen beiden familiengeschichten aus zwei unterschiedlichen zeiten liegen die gleichen themen zugrunde: abschied, heimweh, religiosität und die rolle der frau. in einem spannenden und unterhaltsamen erzählstil berichtet die autorin über die macht der kirche und die unterordnung der frau. beides hat sich in den dazwischen liegenden fünfhundert jahren nicht wesentlich verändert. die anschauliche schilderung der lebensumstände lässt einen eintauchen in diese völlig andere welt, von der unser heutiges leben noch immer geprägt wird. sehr geholfen hat das hinten angefügte namensverzeichnis, nicht ganz verstanden habe ich die reihenfolge der einzelnen geschichten.

03.02.2019

josef haslinger: jáchymov

als der verleger anselm findeisen zufällig auf eine frau trifft, die der geschichte ihres vaters nachforscht fordert er sie auf, diese aufzuschreiben. so erfahren wir vom berühmten torwart der tschechoslowakischen eishockey-nationalmannschaft, bohumil modrý, dessen karriere in den 1930er jahren beginnt. nach der machtübernahme der kommunisten in den nachkriegsjahren werden er und seine teamkollegen wegen verschiedener angeblicher vergehen angeklagt: planung der republikflucht, agitation gegen das regime oder unsozialistisches verhalten werden ihnen vorgeworfen. seine strafe verbüsst er als zwangsarbeiter in den minen von jáchymov, wo die häftlinge ohne schutz und mit blossen händen uranerz abbauen müssen. modrý stirbt einige jahre später an den folgen dieser haft, an einer leukämie.
der berührende geschichtliche roman setzt diesem erfolgreichen sportler jener zeit, der stellvertretend steht für viele andere menschen mit ähnlichen schicksalen, ein denkmal. es wird einem bewusst gemacht, wie unberechenbar ruhm und ehre sein können und wie schnell der wechsel politischer machtverhältnisse alles verändern kann. ein wunderbares buch mit einer subtil vorgetragenen, weisen botschaft, von dem man kaum ablassen kann.