30.06.2019

daniel de roulet: die blaue linie


max, arrivierter und erfolgreicher architekt, der projekte auf der ganzen welt betreut, läuft den new york-marathon. in seiner jugend war er teil der anti-akw-bewegung. sein erster langer lauf war die flucht durch die nacht nach der sprengung des informationspavillons auf dem bauplatz in kaiseraugst. während er der blauen linie entlang durch manhattan, queens, brooklyn und die bronx läuft, kommen diese und viele andere erinnerungen aus seinem leben hoch. der widerspruch in seiner lebensgeschichte wird für ihn greifbar.
faszinierend sind die akribisch genauen beschreibungen der spannung im vorfeld des laufes und der empfindungen im körper, während der strapazen. genau gezeichnet sind auch die unterschiedlichen kulissen, die sich vor den läufern auftun und die die sozialen unterschiede der einzelnen stadtteile aufzeigen. die erinnerung an jene fluchtnacht bleibt eher kommentarlos erzählt. diese geschichte, die exemplarisch stehen kann für die biografie vieler altachtundsechziger kommt in einer komplexen, sehr schönen sprache daher.

28.06.2019

marco balzano: das leben wartet nicht

mit neun jahren verlässt ninetto zusammen mit einem freund der familie das heimatdorf in sizilien um im norden arbeit zu finden. In mailand beginnt er als ausläufer, bis er mit fünfzehn legal in einer autofabrik zu arbeiten beginnen kann. seinem arbeitsplatz bleibt er treu bis ein dramatisches ereignis sein leben völlig verändert. heute als pensionierter blickt er zurück auf sein leben, seine arbeit und seine familie. seine fröhliche, positive und gewinnende art hat ihn immer weitergebracht. und nun muss er kämpfen, weil die beziehung zu seiner familie in gefahr ist.
noch in den 1960er-jahren war es üblich, dass kinder aus armen familien im süden italiens nach norden gingen um dort zu arbeiten und geld zu verdienen. auf dieser historischen tatsache bewegt sich die berührende geschichte von ninetto, der trotz aller schwierigkeiten immer wieder aufsteht und weitergeht. der autor zeichnet neben einer familiengeschichte in dieser sozialstudie auch ein bild Italiens der letzten jahrzehnte, in dem die süditalienischen arbeitskräfte für die industrie im norden mittlerweile von solchen aus afrika abgelöst werden.

21.06.2019

francesca melandri: ueber meereshöhe

ende der 1970-er jahre sind zwei menschen auf einer fähre unterwegs, die sie zur gefängnisinsel bringt. luisa besucht ihren mann, der im jähzorn einen mord begangen hat, und paolo, seinen sohn, der als terrorist attentate verübt hat. die besuche verlaufen schwierig und erfüllen ihre erwartungen nicht. aber ein aufkommender sturm vereitelt die rückfahrt aufs festland, die beiden müssen die nacht auf der insel verbringen. so beginnen sie miteinander zu reden und finden gegenseitiges verständnis und vertrauen.
mit grosser atmosphärische dichte beschreibt die autorin geschehnisse und nicht immer einfache begegnungen. faszinierend, wie die jeweils nur mit wenigen worten skizzierten personen gestalt annehmen und ihr profil erhalten. ohne aufdringlich zu werden gelingt es francesca melandri fast beiläufig, den fokus auf die rolle der frauen zu richten. man erfährt einiges über die repression des staates und seiner funktionsträger. trotz des schwergewichtigen themas und einer relativen vielschichtigkeit, kommt der roman leicht und spannend daher.

12.06.2019

gaito gasdanow: die rückkehr des buddha

in einem park wird ein student von einem bettler um etwas geld angegangen und er gibt ihm 10 francs. zwei jahre später trifft er in einem café auf einen gepflegten herrn, in dem er den damaligen bettler wiedererkennt. pawel alexandrowitsch lädt den studenten zu sich ein, die besuche wiederholen sich. nach einem solchen abend wird alexandrowitsch ermordet und der student gerät in verdacht der täter zu sein. letztlich kann wegen einer verschwundenen und wieder aufgetauchten buddha-figur seine unschuld bewiesen werden und der wirkliche mörder wird gefasst.
der krimi ist nur der aufhänger für diese geschichte, die eigentlich eine sozialstudie ist und das lebensmilieu der russischen emigranten im paris der zwischenkriegsjahre schildert. in einer bestechend ruhigen und schönen sprache liest man über das aufeinandertreffen von menschen aus unterschiedlichen sozialen schichten, denen nur ihre herkunft gemeinsam ist. die auseinandersetzung mit den politischen vorgängen in ihrer heimat hat ebenso seinen platz wie die gegenseitigen verpflichtungen und abhängigkeiten, in die sich die emigranten verstricken. tiefgründig und bewegend!

05.06.2019

dörte hansen: mittagsstunde


das nordfriesische dorf brinkebüll erlebt seit den 1970er jahren viel veränderung. seit der grossen flurbereinigung ist die landschaft völlig umgestaltet. die kleinbetriebliche landwirtschaft ist untergegangen, nur wenige höfe überleben. die jungen verlassen die dorfgemeinschaft und ziehen in die städte; dorfladen und schule schliessen. in die verlassenen gebäude ziehen junge menschen aus der stadt, die ein anderes leben führen. in diese welt kehrt ingwer feddersen zurück. er lebt seit jahren in kiel in einer wohn­gemeinschaft. seine grosseltern, die ihn anstelle seiner eltern grossgezogen hatten, brauchen hilfe und unterstützung. mit anderen augen betrachtet er die kleine welt seiner kindheit und entdeckt seine liebe zum dorf neu. es schmerzt ihn zu sehen, was alles verloren gegangen ist.
ein heimatroman der ganz besonderen art: als wäre sie selbst darin gross geworden beschreibt die autorin mit grosser genauigkeit das leben und die geschehnisse. in den kapiteln wechselt sie immer wieder die perspektive: gegenwart und vergangenheit. so wird man langsam an die wirklichen geschichten der menschen herangeführt, erfährt langsam all die dinge, über die man im dorf nicht redet, einen mantel des schweigens legt. treffend ist die beschreibung der verschlossenheit und teilweisen rückwärtsgewandtheit der menschen im dorf, die sich doch immer wieder – manchmal freiwillig, manchmal auch eher unfreiwillig – auf neues einlassen. und ausserordentlich berührend zu lesen sind die vielen schwierigen momente der pflege der beiden grosseltern. ganz speziell sind die vielen plattdeutschen dialoge, die zu lesen nach kurzer einübung eigentlich kein problem mehr darstellen und mit denen ein weiterer verlust – der der angestammten sprache – ausgezeichnet skizziert wird.

02.06.2019

michael ondaatje: katzentisch

cassius der mutige, ramadhin der stille, verträumte und michael, der erzähler, sind drei grund­ver­schiedene jungen. sie sind unterwegs von ceylon, wo sie bisher vor einem kolonialen hintergrund aufgewachsen sind, nach england für ihre weitere ausbildung. gemeinsam erkunden sie den kosmos auf diesem schiff, lassen sich faszinieren von der für sie verbotenen zone der ersten klasse und beobachten das leben ihrer so unterschiedlichen mitpassagiere – darunter emily, die cousine michaels. in dieser begrenzten welt führen die drei knaben ein schon fast abenteuerliches leben. nach der ankunft halten sie nur teilweise noch kontakt miteinander. lange später treffen sich emily und michael und blicken darauf zurück, wie die damalige reise sie geprägt und verändert hat.
eigentlich ist es ein abenteuerbuch, das in vielen skurrilen, aber auch schönen szenen zeigt, wie unterschiedlich die passagiere dieses dampfers sind. die beobachtung unerklärlicher beziehungen und geheimnisvoller vorgänge regt die fantasie der drei freunde an, so dass man beim lesen miträtseln und mitfiebern kann. unterhaltsam und nicht ohne tiefgang zu lesen, hat das buch einen etwas komplizierten und schwierigen schluss, den ich zweimal lesen musste, um ihn zu verstehen.