25.08.2019

lea singer: anatomie der wolken

caspar david friedrichs wolkenbilder zeugen von seiner einzigartigen fähigkeit als maler. trotz des beginnenden ruhms bleibt er jedoch sich selbst und nur seiner kunst verbunden, hat ein bescheidenes, zeitweise etwas unsicheres auftreten und legt keinen wert auf aeusseres. ganz anders als goethe, der zu jener zeit schon sehr angesehen ist und in gehobenen gesellschaftlichen kreisen verkehrt. doch goethe – der sich mit den wolken wissenschaftlich beschäftigt – scheint mit den bildern friedrichs wenig anfangen zu können. so bleibt auch die begegnung der beiden eher befremdlich.
der an ein mögliches historisches ereignis angelehnte roman versucht die lebens- und gedankenwelt der damaligen zeit abzubilden. die enorme dichte an fakten und geschichtlichen ereignissen lässt eine mögliche handlung fast völlig verschwinden. das macht das lesen schwierig, genau so wie die kurzatmige sprache mit überdurchschnittlich vielen unvollständigen sätzen und satzellipsen, die den lesefluss stören.

19.08.2019

erlend loe: naiv. super.

ein unbedeutender anlass stürzt einen 25-jährigen studenten in eine lebenskrise. er gibt sein studium auf und ist sich klar, die tage müssen anders werden. er hängt herum, denkt über sein leben nach, zählt auf, was ihm wichtig ist, was ihm gefällt, was er nicht liebt und sucht ein neues ziel. er lernt børre kennen, der als kleiner nachbarsjunge sein herz gewinnt und jeweils unvermittelt fragen stellt, die zum nachdenken zwingen. er lernt auch eine junge frau kennen, zu der er zögerlich eine beziehung aufzubauen beginnt. einer einladung seines bruders nach new york folgend beginnt eine neue perspektive und das leben gewinnt langsam wieder farbe.
in einer schnörkellosen, klaren sprache mit kurzen prägnanten sätzen berichtet uns der autor über schwierigkeiten und zweifel im leben eines jungen mannes, in einer zeit, in der viel in bewegung ist, aber auch über deren bewältigung.

14.08.2019

joseph boyden: der lange weg

die zwei indianerjungen xavier und elijah sind freunde und leben mit ihrer tante niska in den wäldern in kanadas norden. sie fischen und jagen, ihr leben steht im einklang mit der natur. doch elijahs sehnsucht nach einem anderen leben lässt die beiden losziehen und in die armee eintreten. während des ersten weltkrieges werden sie mit ihrer einheit nach europa verlegt, in flandern erleben sie das grauen des krieges. ihre fähigkeit zu beobachten, sich geräuschlos zu bewegen und genau zu schiessen, macht sie bald zu spähern und scharfschützen. während elijah immer mehr dem rausch des tötens erliegt, sieht xavier immer auch den menschen, der ihm als feind gegenübersteht. die entfremdung zwischen den beiden beginnt ihren lauf zu nehmen.
die geschichte beginnt mit der alleinigen rückkehr des schwer verletzen und morphinabhängigen xavier. seine tante holt ihn am bahnhof ab und paddelt ihn drei tage den fluss hinauf zurück nach hause. auf dieser heimfahrt wird niska klar, dass xavier von diesen schrecklichen, quälenden bildern nicht mehr loskommt: dass dies sein ende sein wird. sie versucht sein leid zu lindern, in dem sie ihm die geschichte ihres volkes erzählt und damit bilder seiner unbeschwerten jugend entgegenstellt.
der einzigartige, fesselnde aber auch traurige roman berichtet in der retrospektive. in der gegenüberstellung der friedlichen welt der cree-indianer und dem krieg in flandern schildert der autor den starken kontrast zwischen zwei welten, in denen sich die beiden jungen behaupten müssen. zunächst als indianer in ihrer einheit mässig gelitten, wendet sich das blatt: ihre fähigkeiten, sichern ihnen im krieg nicht nur oft das ueberleben, sondern bringen ihnen auch ruhm und ehre ein.
diese geschichte schont einen beim lesen nicht. allein die berichterstattung aus den schlachten ist derart deutlich und erbarmungslos genau, dass sie definitiv nichts für schwache nerven ist. aber nicht nur der untergang von land und leuten, sondern auch die psychischen und sozialen zerstörungen, die der krieg hinterlässt, treten deutlich hervor. ein schauerliches und schweres stück literatur, das – aber gerade weil es einen nicht verschont – lesenswert ist.

05.08.2019

sacha batthyany: und was hat das mit mir zu tun?

der autor, der in der schweiz als kind von einwanderern aufgewachsen ist, hat sich bisher kaum mit der geschichte seiner familie befasst und zu seiner entfernteren verwandtschaft keine beziehung gehabt. da legt ihm eine arbeitskollegin einen zeitungsartikel auf den schreibtisch, der von seiner grosstante margit handelt, die im krieg an der erschiessung von 180 juden beteiligt gewesen sein soll. plötzlich sieht er sich mit einem ereignis konfrontiert, das ihn sehr beschäftigt. er beginnt mit nachforschungen, reist an den ort des geschehens und sucht nach zeitzeugen und deren nachkommen. so kommt er nicht nur diesem familiengeheimnis, über das immer geschwiegen wurde, auf die spur, er schreibt auch ein stück migrationsgeschichte aus der zeit nach dem krieg.
sein zentrales thema jedoch ist, was hat dies alles mit mir gemacht? wie beeinflusst dies mein bewusstsein und mein verantwortungsgefühl? dieser schwierigen frage geht er meisterhaft auf den grund.

03.08.2019

patrick modiano: dora bruder

eine kleine vermisstenanzeige in einer pariser zeitung von 1942 steht am anfang der suche nach dem lebensweg von dora bruder, eines jüdischen mädchens, das mit seinen eltern im damals besetzten paris lebt. wer ist dora bruder, woher kommt sie, wie verläuft ihr junges leben und wohin geht sie? dies sind die fragen, denen der autor über jahre nachgeht und in archiven nach zeugnissen forscht. dokumente über dora bruder und weggefährtinnen von ihr lassen langsam ein bruchstückhaftes bild entstehen. damit und mit langen spaziergängen an orten des geschehens nähert er sich einer möglichen geschichte und lässt das damalige leben und die vorgänge in der französischen hauptstadt auferstehen. vieles bleibt unbekannt, weil die akten vernichtet worden sind. dora bruder wird 1942 nach auschwitz deportiert, wo sich ihre spur verliert.
dieses buch setzt einem jüdischen mädchen stellvertretend für viele ein berührendes denkmal.