28.02.2020

elisabeth plessen: die unerwünschte

sie sind adelig und grossgrundbesitzer, aber das 20. jahrhundert bringt viele veränderungen und damit auch den untergang der alten werte. ernst august, der patriarch, ist der letzte seiner art. die für ihn wichtige männliche erbfolge erleidet durch den tod zweier söhne im zweiten weltkrieg eine empfindliche einbusse. die hälfte seiner güter geht an stefanie, seine tochter, die auf ihren wirklich geliebten mann verzichtet und nach dem willen der familie standesgemäss heiratet. die eher unglückliche bewirtschaftung der güter trägt zu deren niedergang ebenso bei wie der zerfall der familienstrukturen. die meisten der nächsten generation verabschieden sich endgültig aus den althergebrachten traditionen und zwängen und beginnen ihr eigenes, selbstbestimmtes leben zu führen.
das buch gibt einen kritischen rückblick auf die damaligen verhältnisse und die entwicklungen bis heute. mit der grosseltern- und elterngeneration verschwinden nicht nur regeln und gewohnheiten, sondern auch der besitz und das vermögen werden weniger. die jungen tragen noch die namen und titel, mit denen sie sehr unterschiedlich umgehen. das ignorieren der veränderungen treibt die alten in eine von ihnen unverstandene isolation. die autorin – selbst nachfahrin einer solchen familie – schafft mit ihrem analytisch beobachtenden rückblick einen einzigartigen einblick in verhältnisse, die die meisten nur vom hörensagen kennen.

19.02.2020

max annas: finsterwalde

deutschland in vielleicht nicht allzu ferner zukunft: der osten ist immer mehr entvölkert, einzelne städte werden ganz geräumt und zu lagern umfunktioniert. menschen mit migrationshintergrund werden aus ihren wohnungen geholt und – nach ethnischen kriterien sortiert – dort untergebracht, wo sie warten, bis ein anderes land sie aufnimmt. finsterwalde ist das lager, in das die schwarzen eingewiesen werden. darunter auch marie mit ihren kindern, die bisher als aerztin in berlin gearbeitet hat. als sie erfährt, dass noch drei kleine kinder in berlin zurückgeblieben sein sollen, beschliesst sie, diese zu retten.
eine apokalyptische geschichte, die einen das fürchten lernen kann. ein totalitäres system beginnt mit ethnischer säuberung. menschen verlieren alles und werden wertlos. staatliche gewalt wird legitimiert und nichts ist mehr sicher. während die hintergründe und umstände durch ihre beschreibung ein plastisches, wirklichkeitsnahes und sehr unheimliches bild abgeben, ist die handlung selbst etwas dünn und konstruiert. trotz der «harten kost» als denkanstoss und warnung lesenswert.

11.02.2020

jessica durlacher: das gewissen

als edna während einer vorlesung ihren mitstudenten samuel sieht, verliebt sie sich unsterblich in ihn. er ist schön, rätselhaft und scheint ihr unnahbar. doch sie lernen sich kennen und beginnen eine, zunächst noch fragile und sehr ungleichgewichtige beziehung, die sich nach verschiedenen turbulenzen zu stabilisieren beginnt. während edna ihre beruflichen ziele verfolgt, ist samuel als verunsicherter junger mann immer auf der suche nach dem sinn seines lebens. während eines beruflichen aufenthaltes in südfrankreich, begegnet edna felix, den sie aus der studienzeit kennt, und steht plötzlich zwischen zwei männern. die entscheidung wird ihr letztlich auf tragische weise abgenommen.
was stoff für einen kitschigen liebesroman hergeben würde, wird hier zu einer faszinierenden geschichte über das gefühlsleben einer jungen frau, die im zustand ihrer verliebtheit vor allem von projektionen geleitet wird. die entzauberung ihres objekts folgt unweigerlich. mit viel psychologie, selbstreflexion und humor lässt die autorin ihre protagonistin auftreten. auch wenn das buch nicht über die ganze strecke tiefgang und spannung zu halten vermag, unterhaltsam ist es zweifellos.

08.02.2020

dževad karahasan: sara und serafina

dieser roman handelt in den 1990er-jahren während des jugoslawienkrieges. sara ist lehrerin und lebt mit ihrer erwachsenen tochter antonija im sarajevo. die stadt ist durch einen belagerungsring de facto abgeriegelt, nur ein geheimer tunnel unter dem flughafen stellt die einzige verbindung zur aussenwelt dar. saras schwester andjelina -- schon lange in zagreb verheiratet -- will für die beiden die passage organisieren. sara denkt nicht daran wegzugehen, ihre tochter hingegen schon. die vorbereitungen sind kompliziert und letztlich scheitert antonijas reise. sara ist so verzweifelt, dass sie sich das leben nehmen will, indem sie über eine strassenkreuzung läuft, wo heckenschützen auf alles schiessen, was sich bewegt.
dieser text blickt hinter die schlagzeilen, die kriege machen, hinein in die welt von menschen, die nichts anderes wollen als friedlich zusammenzuleben. aber selbst einfachste dinge werden kompliziert, persönliche beziehungen werden wichtig und die bisher völlig unwichtige ethnische oder religiöse zugehörigkeit beginnt über tod und leben zu entscheiden. dieses höchst philosophische buch, in dem es dem autor gelingt, anhand einer beispiellos normalen geschichte zu zeigen, wie alle werte und sicherheiten verloren gehen oder sich ins gegenteil drehen, lässt einen betroffen zurück.

04.02.2020

uwe szymborski: keine helden

mark lebt als jugendlicher ende der 1980er jahre in leipzig. in der schule läuft es gut für ihn, auch wenn ihn manchmal die verpflichtungen der sozialistischen jugendorganisationen nerven. mark spürt aber auch, dass er sich für jungs interessiert und er verliebt sich in pascal, der sich als stricher bei westtouristen geld verdient: eine schwierige und einseitige liebe.  später entwickelt sich etwas zwischen ihm und uwe, dem sohn eines parteibonzen und grossen sportlers in seiner klasse, dem er nachhilfe in mathematik gibt. nach dem fall der mauer erkunden die beiden die szene in westberlin. während die ddr geschichte wird, führen die beiden eine nicht ganz einfache, ungleichgewichtige beziehung.
diese autobiografische geschichte wirft mehr ein licht auf das comming-out der jugendlichen als auf die verhältnisse in den späten jahre der ddr. der manchmal sich ziemlich an der oberfläche bewegende – ab und zu auch eher leicht pornografische – text ist leicht zu lesen und lässt mehr fragen offen, als er beantwortet. ein unterhaltsames, kurzweiliges buch, das aber die chance der auseinandersetzung mit der komplizierten situation von homosexualität im real existierenden sozialismus ziemlich verpasst, diesen anspruch offensichtlich aber auch nicht hat.