28.04.2020

chanel cleeton: nächstes jahr in havanna

als ende der 1950er jahre fidel castro an die macht kommt, verlässt die reiche grossgrundbesitzerfamilie perez ihre heimat kuba. sie müssen alles zurücklassen und bauen in florida ein neues leben auf. elisa, die eine tochter, lässt ihren geheimgehaltenen geliebten zurück. als sie sechzig jahre später stirbt, hinterlässt sie den wunsch, ihre asche möge auf der heimatlichen insel beigesetzt werden. ihre enkelin marisol übernimmt diesen auftrag und reist so zum ersten mal ins herkunftsland ihrer vorfahren. dort trifft sie auf menschen, die ihre grossmutter früher gekannt haben. immer mehr erfährt sie über das leben damals und es beginnt sich ein familiengeheimnis aufzutun.
ein unterhaltsames buch, das die spannung vor allem mit viel handlung und emotion hält. die sich überstürzenden ereignisse und die zeitweise unwahrscheinlichen zufälle erscheinen beim fort­schreitenden lesen immer konstruierter. während die politischen vorgänge und veränderungen in kuba aus der sicht der wohlsituierten exilkubanerin etwas an der oberfläche bleiben, kommen die emotionalen und dramatischen momente voll zum tragen.

22.04.2020

daniel hope: familienstücke

der berühmte violonist hat seit langem das foto des hauses seiner urgrosseltern neben seinem schreibtisch. auf einer konzertreise nach berlin steckt er es mit der absicht ein, zu dieser adresse zu gehen, um sich den ort einmal anzusehen. dies ist der anfang seiner familiengeschichtlichen nach­forschungen. selbst in durban geboren und in london aufgewachsen findet er grosseltern und urgrosseltern in irland und deutschland. in der weitverzweigten verwandtschaft gibt es wohlhabende juden, die vor den nazis flüchten müssen, aber auch wehrmachtsangehörige, die karriere machen und mit hitler zu tische sitzen. in südafrika finden sich apartheidsgegner aber auch unterstützer dieses systems. sein irischer urgrossvater wandert wegen der grossen armut nach england aus, von wo er sich als soldat verdingt und so letztlich nach südafrika kommt. aus all dem zeichnet daniel hope zusammen mit der co-autorin susanne schädlich ein exemplarisches panorama von migration im 20. jahrhundert.
diese spannende und sehr persönliche geschichte, beschreibt viele seiner vorfahren mit ihren persönlichen stärken und schwächen. eine akribische suche nach zeugnissen und dokumenten hilft ihm, sich ein bild einiger seiner verstorbenen familienmitglieder zu machen. bei anderen ist er auf beschreibungen von noch lebenden verwandten oder auf vermutungen angewiesen. einen teil des buches widmet er auch seinen kindheits- und jugenderinnerungen, seinem aktuellen leben und seiner momentanen konzerttätigkeit. der vergangenheit stellt er so die gelebte gegenwart entgegen. ein interessantes buch – illustriert mit fotografien – in dem daniel hope auch viel von sich selbst preisgibt.

17.04.2020

angelika waldis: ich komme mit

zu beginn dreht sich lazys leben um elsie: der junge student ist verliebt und glücklich mit ihr. doch dann wird er schwer krank, die beziehung der beiden zerbricht. vom spitalaufenthalt wieder zuhause, trifft er auf vita, die alte frau aus dem oberen stockwerk. zunächst beginnt sie für den erschöpften lazy zu sorgen, lädt ihn zum essen ein und später nimmt sie ihn ganz in ihre wohnung auf. hier beginnt eine ausserordentliche freundschaft zwischen zwei menschen, die beide den tod in erreichbarer nähe wähnen. gemeinsam begeben sie sich auf eine reise zu einem ausgrabungsort in der türkei, der für lazy eine grosse bedeutung hat. mit letzter kraft kehren sie zurück. und nun beginnen sie ihre letzte reise zu planen, von der es keine rückkehr geben soll.
es braucht einen moment, bis der roman fahrt aufnimmt, dann aber wird er immer intensiver und berührender. die freundschaft zwischen den beiden hat viel farbe, humor und trauer, die immer wieder schnell und unmittelbar wechseln. ich war beim lesen so intensiv dabei, dass ich immer wieder plötzlich lachen musste oder es mir tränen in die augen trieb. den fragen um kranksein und sterben wird hier auf eine meisterhafte und unkonventionelle weise nachgegangen.

14.04.2020

christian de simoni: das rigilied

wer kennt es nicht, das rigilied? «vo luzärn gege wäggis zue..», das bekannte volkslied, ist die grundlage zu diesem kleinen buch. es beginnt wie eine historisch-wissenschaftliche arbeit über die entstehung dieses musikstücks, dessen weitergabe und verbreitung. immer mehr wird der text aber grotesker und immer mehr beginnt man beim lesen die persiflage auf solche arbeiten zu erkennen.
auch wenn der autor sich zeitweise weit vom thema entfernt und andere persönliche ereignisse einfliessen lässt, deren zusammenhang mit dem zentralen thema sich einem nicht erschliesst, ist es ein köstlich zu lesendes kleines werk. es lebt von der phantasie und der ausgeprägten beobachtungsgabe de simonis und dessen fähigkeit, diese wahrnehmungen treffend niederzuschreiben. eine richtige trouvaille!!

10.04.2020

florian illies: 1913


das jahr vor dem anfang des ersten weltkrieges ist ein ereignisreiches jahr des aufbruchs und des untergangs. maler wie picasso, braque und kandinsky finden neue ausdrucksformen, schönberg komponiert moderne zwölftonmusik, thomas mann veröffentlicht «tod in venedig», all dies kommt beim publikum sehr unterschiedlich an. verschiedene unglückliche beziehungen werden geführt, einige künstler verfallen dem morphin. kaiser wilhelm II weiht das völkerschlachtdenkmal in leipzig ein und tut sich schwer mit der konstitutionellen monarchie. auch hitler, trotzki und stalin treten bereits als junge männer in erscheinung. willy brandt und marika rökk werden geboren.
die vielen kurzen texte über menschen, deren kunst noch heute berühmt oder deren politisches wirken einen wesentlichen einfluss auf den weltlauf hatte, zeichnen ein bild jener zeit und geben die damalige stimmung wieder. spannend und interessant, leider aber etwas einseitig: frauen und einfache leute fehlen weitgehend, um das leben dieses jahres vollständig zu zeichnen.

06.04.2020

gusel jachina: wolgakinder

wir schreiben das jahr 1916. schauplatz ist das kleine von deutschen bewohnte dorf gnadental in der steppenlandschaft an der wolga. hier führt jakob bach als lehrer der dorfschule ein ärmliches, aber strukturiertes dasein. als er von jenseits des flusses von einem reichen bauern den auftrag erhält, dessen tochter klara zu unterrichten, verändert sich sein leben: die beiden verlieben sich ineinander und sie werden später mann und frau. als klara bei der geburt des ersten kindes stirbt, muss jakob bach in der abgeschiedenheit des hofes für das kleine mädchen sorgen. nachrichten über die veränderungen in gesellschaft und staat finden den weg nicht hierher, die zeit scheint stillzustehen. als ein paar jahre später eines nachts wassja, ein herumstreichender gassenjunge, ins haus einbricht und dann bei ihnen bleibt, beginnt die loslösung der tochter vom vater. durch die kollektivierung der erziehung in der jungen sowjetunion werden die kinder vom vater getrennt. er kann sie nicht aufhalten ihre eigenen wege zu gehen und den versprechungen der neuen gesellschaftsordnung zu folgen.
realistisch, märchenhaft und mystisch ist dieses buch, das sich vor dem hintergrund der gründung der sowjetrepublik der wolgadeutschen abspielt. es beleuchtet das leben von einfachen menschen in einem politischen umbruch, aber auch eine ganz spezielle liebes- und familiengeschichte. die beinahe sechshundert seiten sind nicht immer gleich spannend aber immer irgendwie unterhaltsam zu lesen. etwas aus dem zusammenhang fallen die auftritte stalins in verschiedenen kapiteln.