27.04.2021

dmitrij kapitelman: eine formalie in kiew

mit acht jahren ist der autor und ich-erzähler aus der ukraine mit seiner familie nach deutschland gekommen und in einer plattenbausiedlung in leipzig gross geworden. etwa zwanzig jahre später fällt er den entscheid sich einbürgern zu lassen. dafür braucht er amtliche dokumente, die ihm eine behörde in kiew ausstellen muss. so fährt er zurück ins land seiner kindheit, mit dem ihn ausser ein paar entfernter verwandter nichts verbindet. die beschaffung seiner papiere ist erstaunlich unkompliziert, wesentlich schwieriger werden seine familienbeziehungen. unerwartet reist plötzlich sein vater für eine grössere zahnbehandlung an und als dessen gesundheitszustand sich verschlechtert wird ein spitalaufenthalt nötig. aus der kurz geplanten reise wird eine längere und es wird klar, wie die ablösung von seiner familie doch nicht so endgültig ist, wie er annimmt.
ein autobiografischer roman, der aus einer einwanderer- oder flüchtlingsperspektive viele aspekte aufgreift. in einer ganz eigenen sprache begegnet man hier einer anderen welt, die witzig und manchmal auch etwas sarkastisch dargestellt wird. das grundthema – der bruch zwischen der erlebniswelt von migrierten eltern und ihren kindern – wird ebenso deutlich, wie die schwierigkeit, zwischen zwei welten, zwei identitäten gross zu werden. die nie ganz mögliche befreiung aus familienzwängen kommt in einer liebevoll anmutenden tragik daher. an diesem bis zur letzten seite spannenden und unterhaltsamen buch hat mir besonders die mischung aus tiefgründigkeit, spannung und leichtigkeit gefallen.

23.04.2021

gerbrand bakker: birnbäume blühen weiss

gerard ist alleinerziehender vater von drei söhnen: die zwillinge kees und klaas und der jüngere gerson. sie leben gut und einvernehmlich zusammen, bis ein unfall alles verändert. gerson wird schwer verletzt und verliert sein augenlicht. von da an ist nichts mehr wie vorher und stellt alle vor eine grosse aufgabe. die vier halten zusammen und stellen sich dieser herausforderung auf eine ungewöhnliche weise.
spannend ist die wechselnde perspektive; aus der sicht gersons und aus der sicht der anderen familienmitglieder stellen sich die probleme nicht immer gleich dar. ein kurzer aber sehr berührender roman, der in einer klaren und ruhigen sprache eine tragische geschichte erzählt. zeitweise kam mir die handlung so nahe, dass ich das lesen unterbrechen musste. es ist ein buch, das ich nicht so schnell vergessen werde.

20.04.2021

andrej kurkow: petrowitsch

beim umzug in eine neue wohnung in kiew muss kolja von seinen vormietern einiges an einrichtung übernehmen, so auch ein volles bücherregal. dort findet er in einem buch handschriftliche einträge über geheime tagebücher des nationaldichters schewtschenko. diese sollen in einer festung in kasachstan vergraben sein. er macht sich auf die lange reise dorthin und kommt dabei unterwegs in der wüste beinahe ums leben. der nomade dshamsched und seine zwei töchter retten ihn und pflegen ihn in ihrer jurte wieder gesund. für die weiterreise gibt ihm dshamsched eine der beiden töchter mit. es entwickelt sich eine liebesgeschichte unter abenteuerlichen bedingungen, die am schluss ein gutes ende findet.
die reise durch die postsowjetisch entstandenen staaten zeigt auf, wie diese gesellschaften zwischen gastfreundschaft und menschlichkeit, aber auch kriminalität und korruption funktionieren. gleichzeitig ist man beim lesen nie sicher, was wahrheit und was fiktion ist. dieser heitere und zugleich düstere roman in der art eines road-movies ist leicht und unterhaltsam zu lesen.


11.04.2021

silvio blatter: eine unerledigte geschichte

eric ist der uneheliche sohn, den seine mutter in die ehe mitbringt. mit seinem jüngeren halbbruder ben teilt er das zimmer in dem haus, in dem auch sein grossvater wohnt. zu seinem stiefvater hat er kein wirkliches verhältnis und sein kleiner halbbruder nervt ihn oft. seine jugendliebe eva, wohnt zwei häuser weiter, wird aber später in ein internat geschickt und er sieht sie nie wieder. eric wird ein erfolgreicher komponist für filmmusik. später als ihn seine frau verlässt, nimmt er sich eine auszeit und geht nach kalifornien. dort erreicht ihn ein kompositionsauftrag zu einem film, den sein halbbruder finanziert. erst zögernd lässt er sich darauf ein und wird dadurch mit der geschichte seiner jugend konfrontiert, mit der er abgeschlossen zu haben meint.
gekonnt erzeugt der autor mit eher wenig handlung eine spannung, der man sich beim lesen kaum entziehen kann. die sozialen verhältnisse sind ebenso anschaulich und einfühlsam beschrieben, wie erics innere einsamkeit, seine träume und suche nach identität. die zentrale frage nach dem leiblichen vater, die immer wieder aufkommt, begleitet ihn bis zum ende des buches. mit verhaltenem humor sind orte und menschen sehr treffend dargestellt und ergeben eine mischung aus teenagerleben, ländlicher idylle und unterschiedlichen sozialen bedingungen, die aus dem roman ein besonderes zeitzeugnis machen.

06.04.2021

thomas hettche: herzfaden

nach einer vorstellung der augsburger puppenkiste wagt sich eine neugierige 12-jährige durch eine türe und gelangt so auf einen dachboden, wo sie auf verschiedene marionetten trifft. dort ist auch die tochter des gründers dieses theaters. diese beginnt dessen geschichte zu erzählen: wie alles während des zweiten weltkrieges begann und wie bombardierungen alles zerstörten. dank dem engagement einiger menschen glückt ein neubeginn. für die menschen im nachkriegsdeutschland wird die puppenkiste eine wichtige institution.
ueber die lebendige erzählweise taucht man schnell in die geschichte ein. es fasziniert nicht nur der elan und die zielstrebigkeit, mit der dieses theater gegründet wird, sondern auch die verbundenheit und begeisterungsfähigkeit der menschen, die ein solches projekt mit wenig ressourcen und viel phantasie zustande bringen. sehr zentral und berührend sind die beschreibungen der lebensumstände während des krieges aus der sicht eines kindes. so erfährt man aus einer ganz speziellen optik über widerstand, bombardierungen, verlust und ueberleben an einem ort, an dem es eigentlich kaum noch etwas gibt und wie wichtig dabei auch das aufleben eines kulturellen angebotes ist.

02.04.2021

michela murgia: accabadora

maria, das vierte kind einer armen familie, wird von der alleine lebenden bonaria aufgenommen, wird quasi zu ihrem adoptivkind. schnell fühlt sich maria geborgen und wohl im neuen haus und entwickelt sich zu einer fleissigen tochter und guten schülerin; mit ihrer neuen mutter hat sie ein vertrautes und gutes verhältnis. bonaria geht hin und wieder nachts aus dem haus und kehrt dann oft erst gegen den morgen zurück. sie ist eine accabadora, eine sterbeamme, die es in der tradition sardiniens bis mitte des 20. jahrhunderts gegeben haben soll: frauen, die den in agonie liegenden sterbenden die leidenszeit verkürzten. alle im dorf wissen davon, nur maria nicht. als sie es erfährt, verlässt sie bonaria und kehrt erst zurück, um sie zu pflegen als diese im sterben liegt.
subtil erzählt die autorin die geschichte um dieses schwierige thema einer besonderen art von sterbehilfe. der gesellschaftliche konsens über etwas, das streng juristisch nicht sein darf, das aber allen bekannt ist und über das niemand öffentlich redet, beleuchtet eine ganz spezielle tradition. die bodenständige handlung kontrastiert den ethischen diskurs auf eine ganz besondere weise und eröffnet ein ganz besonderes leseerlebnis.