25.11.2021

ismail kadare: die brücke mit den drei bögen

im 14. jahrhundert betrachten die verschiedenen herrscher auf dem balkan das osmanische reich bereits als eine bedrohung. die kunde vom plan eines brückenbaus über einen grenzfluss weckt nicht nur aengste vor den türken. auch sind viele der ueberzeugung, dem wasser so etwas nicht antun zu dürfen, weil sonst die bösen wassergeister dieses bauwerk wieder zum einsturz bringen könnten. doch der meister und seine arbeiter beginnen unverzagt mit der arbeit. geschickt nutzen sie den winterlichen, niedrigen wasserstand um die pfeiler zu setzen und spannen danach die bögen darüber. die bewohner der gegend verfolgen den bau kritisch, die fährleute fürchten die konkurrenz und immer wieder gibt es nächtliche sabotageakte. nach der fertigstellung will vorerst niemand darüber gehen. bald aber setzt zunächst zögerlich der verkehr ein.
von einem mönch erzählt, der als chronist agiert, wird man in eine von mythen und aberglauben geprägte gesellschaft entführt, die jeder veränderung, jedem aufbruch kritisch begegnet. detailliert und präzis berichtet er über diese längst vergangene welt, die zwischen technischem fortschritt und abergläubischer rückständigkeit steht. die damaligen machtansprüche einzelner herrscher und die drohenden religiösen einflüsse betrachtend, lassen diese geschichte als parabel auf die heutige zeit verstehen.

22.11.2021

eva menasse: dunkelblum

einst mitten in der donaumonarchie, heute hart an der österreichisch-ungarischen grenze, liegt dunkelblum, der ort der handlung. seit dem zweiten weltkrieg am rande westeuropas und etwas verschlafen, ändert sich kaum noch etwas für die hier ansässigen, die beinahe alles voneinander wissen, aber über vieles schweigen. doch die erinnerungen an die nazi-zeit und ein furchtbares verbrechen lassen sich nicht mehr verdrängen, als plötzlich ein fremder auftaucht, man auf einem feld ein unbekanntes skelett ausgräbt und ein junges mädchen verschwindet. die ankunft und beherbergung einer grösseren gruppe von ddr-flüchtlingen bringt unerwartet alte und neue machtverhältnisse an den tag.
mit angemessenem humor und einzigartigen bildern führt uns die autorin durch das biotop einer komplexen dörflichen schicksalsgemeinschaft. menschliche schwächen und unerfüllte wünsche begleiten das leben im ort ebenso, wie all die geheimen vermutungen und unausgesprochenen verdächtigungen. treffende schilderungen der einzelnen personen und deren handeln führen einen ganz nahe an diese menschen heran. sprachlich genial und präzis wird hier jeder stimmung und jedem gefühl rechnung getragen. in diesem roman öffnet sich exemplarisch ein geschichtspanorama, das eine kaum zu glaubende realität beschreibt. spannend von der ersten bis zur letzten seite ist es eines dieser bücher, von denen man hofft, es blieben immer noch ein paar kapitel zu lesen.

15.11.2021

ocean vuong: auf erden sind wir kurz grandios

als zweijähriger kommt der autor mit seiner mutter und seiner grossmutter aus vietnam in die usa. die beiden frauen haben den vietnamkrieg erlebt. er, der sohn einer vietnamesin und eines amerikanischen soldaten, wird als kind wegen seines aussehens diskriminiert. das leben mit seiner von den kriegserlebnissen geprägten und geschundenen familie ist nicht einfach, aber eine innige liebe verbindet mutter und sohn. als er sich als jugendlicher in trevor verliebt, verändert sich vieles in seinem leben. die liebe der beiden jungen ist heftig, wild und versteckt. mit dem frühen tod trevors findet sie ein tragisches ende. ocean vuong steht zwischen zwei kulturen und muss sich entscheiden, wohin er gehört.
das buch ist angelegt als brief an seine mutter, im wissen darum, dass sie ihn nie lesen wird können: seine mutter ist analphabetin. mit seinem pendeln zwischen prosa und kurzen eher lyrischen einlagen vermittelt der autor ein eindrückliches bild dieser in amerika gestrandeten menschen. auch zeichnet er ein bild vom umgang der amerikanischen gesellschaft mit dem verlorenen krieg und seinen demografischen nachwirkungen. so vielschichtig und kompliziert diese autobiografische geschichte ist, so klar und einfach wird sie erzählt.

10.11.2021

olga grjasnowa: der verlorene sohn

während des kaukasuskrieges im 19. jahrhundert muss der einflussreiche herrscher schamil seinen ältesten sohn jamalludin als pfand für die friedensverhandlungen dem zaren ausliefern. als neunjähriger kommt er also nach st. petersburg und wird in der feudalgesellschaft des alten russlands gross. seine herkunft und familie geraten für ihn immer mehr in vergessenheit. er findet freude am leben und den möglichkeiten in russland, was ihn aber seiner herkunft entfremdet. die karriere in der armee des zaren führt ihn letztlich wieder zurück in die alte, von russland beanspruchte heimat. seine familie hat sich verändert, er findet sich nur schlecht wieder ein und die frage, welches leben er führen will und wem seine loyalität gehört, belastet ihn immer mehr, aber er findet keine antwort.
diese lebensgeschichte eines jungen mannes ist gleichzeitig auch etwas geschichtsunterricht und lässt uns die heutigen konflikte im kaukasus besser verstehen. eindrücklich ist die schilderung, wie die menschen in den herrschaftsverhältnissen gefangen sind und wie sehr sich das gesellschaftliche leben russlands von dem von ihm beanspruchten gebieten in dagestan und tschetschenien unterscheidet. faszinierend ist auch die beschreibung der rolle der frau, die sich in diesen beiden so verschiedenen kulturen kaum unterscheidet. diese stimmige geschichte hat manchmal etwas unmittelbare brüche, bleibt aber bis zum schluss spannend und bereichernd.


03.11.2021

jean-philippe blondel: ein winter in paris

der in einfachen verhältnissen aufgewachsene victor kommt aus der provinz zum studium nach paris. seine mitstudenten und mitstudentinnen stammen alle aus einflussreichen und begüterten familien. er ist ein aussenseiter, fühlt sich alleine und nicht wahrgenommen. nur mit mathieu, der in einer anderen klasse ist und auch von auswärts kommt, raucht und redet er hin und wieder in den pausen. als mathieu sich das leben nimmt, gilt victor plötzlich als dessen einziger freund und gerät ins zentrum des interesses der anderen. der vater des toten sucht das gespräch mit victor, um mehr über seinen sohn zu erfahren. zwischen den beiden entwickelt sich eine art vater-sohn-beziehung.
dieser subtil geschriebene roman gibt einen einblick in die verhältnisse einer französischen eliteschule und zeigt, wie schwierig der soziale aufstieg für junge menschen ist, die nicht bereits ein entsprechendes elternhaus haben. der offizielle umgang mit dem suizid durch die lehrerinnen und lehrer kontrastiert stark mit den gefühlen und emotionen victors und der hilflosen trauer des vaters von mathieu. trotz der ganzen tragik eine schöne und stille geschichte, die sich einer speziellen realität stellt und wunderbar zu lesen ist.