28.12.2021

roland buti: das leben ist ein wilder garten

nachdem sich ana von carlo getrennt hat und ihre gemeinsame tochter nach london gezogen ist, bleibt ihm vor allem seine arbeit als landschaftsgärtner. seine mutter lebt seit einiger zeit wegen ihrer beginnenden demenz in einem heim. als sie plötzlich von dort verschwindet, beginnt die suche nach ihr. von seinem mitarbeiter agon begleitet, entdeckt er die unerwartete lebensgeschichte seiner mutter in einem ungewohnt feudalen milieu. daneben flackert immer wieder die beziehung zu ana auf, die er nach wie vor liebt.
die wie etwas in watte gepackte, liebevolle geschichte lässt vor allem die gedanken- und gefühlswelt des sensiblen hauptprotagonisten erfahren. trotz vieler verschiedener handlungsstränge bleibt alles übersichtlich. die realistische beschreibung der demenz der mutter beeindurckt genau so wie das nebeneinander unterschiedlicher sozialer gefüge, wie sie in der heutigen schweiz realität sind. nicht alle probleme lösen sich, nicht auf alle fragen gibt es eine antwort, was den wunsch nach einer fortsetzung aufkommen lässt.

26.12.2021

josef oberhollenzer: sültzrather

als vitus sülzrather, der einzige sohn des kalberhofbauern, bei der arbeit von einem gerüst stürzt und eine querschnittlähmung erleidet, ändert sich sein leben; auch das familiengefüge kommt durcheinander. vitus wird dichter, schreibt extrem viel. immer seltener lässt er jemanden in seine schreibkammer, die sich mehr und mehr mit papier füllt. sültzrather verschliesst sich zunehmend der umwelt, überlässt sich seinen erinnerungen und träumen. später beginnt er all seine werke wieder zu vernichten, indem er die schrift vom papier kratzt. selbst seine zugehfrau, notburga t., und ihre schöne tochter finden kaum noch zugang zu ihm: damit versiegen auch die neuigkeiten, die ins dorf getragen werden.
so real die handlung vordergründig daher kommt, so fiktiv ist sie. der roman hat das erscheinungsbild einer wissenschaftlichen arbeit mit über mehr als 200 fussnoten, die teils auf tatsachen beruhen, teils einfach frei erfunden sind. damit wird die art solcher publikationen auf eine verhaltene weise karikiert. der virtuose umgang mit der sprache macht das lesen – trotz der fülle von abenteuerlichen schachtelsätzen, die ihren ganz besonderen reiz haben – zu einem richtigen ereignis. es ist ein anspruchsvolles und ganz spezielles buch, dass einem nicht nur einiges abfordert, sondern einen auch belohnt.

22.12.2021

germano almeida: der treue verstorbene

als der berühmte schriftsteller lopes macieira bei einer lesung vor versammeltem publikum von edmundo, seinem besten freund, aus nächster nähe erschossen wird, wird schnell über die hintergründe dieser tat spekuliert. den meisten scheint eifersucht das naheliegendste motiv. lopes macierias frau mariza war schon lange in die vereinigten staaten weggezogen. matilde, edmundos frau, verkehrte regelmässig im haus des schriftstellers, was den leuten in der stadt natürlich nicht entging und zu klatsch und gerede führte. seinem status als wichtigster vertreter der literatur des landes entsprechend wird sein leichnam öffentlich aufgebahrt. politiker setzen sich mit der anordnung eines staatsbegräbnisses in szene. doch da kehrt seine ehefrau mariza zurück und findet ein testament, das eine ganz andere art der bestattung vorsieht.
was wie ein krimi beginnt entwickelt sich schnell zu einem beziehungsdrama und einem gesell­schaftsroman. nicht nur die komplizierten verhältnisse der beiden ehepaare, sondern auch das funktionieren des kleinstädtischen milieus in dieser abgeschlossenen inselgesellschaft könnten treffender und spannender nicht beschrieben werden. mit witz und auch etwas sarkasmus wird am beispiel des verhaltens einzelner beteiligten überdeutlich veranschaulicht, wie es überall immer wieder die gleichen menschlichen verhaltensmuster gibt.

18.12.2021

iris wolff: die unschärfe der welt

in einem pfarrhaus im banat beginnt die geschichte von hannes und florentine. ihr leben ist nicht einfach, im rumänien der 1980er-jahre. samuel ist ihr einziger sohn, dessen leben der roman folgt. er beginnt spät zu sprechen und bleibt ein in sich gekehrter, beobachtender junge, der sich kaum mit anderen kindern anfreundet. viel lieber ist er bei seiner grossmutter, die den alten zeiten nachhängt. oz ist sein einziger guter freund, für den alles zu tun er immer bereit ist. so nimmt er eines tages ein nicht absehbares risiko auf sich, das sein weiteres leben bestimmen wird. nach einem langen aufenthalt in deutschland, kehrt samuel zurück zu seinen eltern. auch in seiner heimat hat sich einiges verändert und es wartet eine ueberraschung auf ihn.
in einer reichen sprache führt die autorin durch sieben kapitel, die sieben ereignissen, orten und personen gewidmet sind. vor dem hintergrund der grossen umwälzungen in osteuropa treffen die schicksale von sehr verschiedenen menschen und deren wertehaltungen aufeinander. auch wenn alles irgendwie zusammenhängt, fügt es sich erst am schluss zu einer stimmigen geschichte. wie der titel schon verheisst, ist vieles mit einer gewissen unschärfe erzählt, trotzdem entsteht ein klares bild. der sicher auch autobiografisch beeinflusste roman ist ein wunderbares lesestück. schlicht ein wunderbares buch, dem vielleicht nur ein kleines rumänisch-deutsches glossar fehlt.

11.12.2021

tabea steiner: balg

antonia zieht mit ihrem mann chris zurück aufs land in ihr heimatdorf. ihr erst vor kurzem geborener sohn timon stellt sie schon früh vor viele herausforderungen und lässt letztlich ihre beziehung scheitern. chris zieht zurück in die stadt, antonia bleibt als alleinerziehende mutter zurück. bald gerät sie in wirtschaftliche schwierigkeiten und muss eine schlecht bezahlte arbeit annehmen. so vernachlässigt sie ihren sohn zunehmend. timon beginnt früh aufzufallen, schlägt andere kinder in der schule und lässt sich immer weniger sagen. einzig zu valentin, einem alten mann im dorf, der früher lehrer war und nun die post austrägt, findet timon etwas vertrauen. aber das wird nicht gern gesehen und gibt zu reden, denn um valentin ranken sich gerüchte, weshalb er den schuldienst damals verlassen hat.
in einem einfachen, klaren und virtuosen bericht führt die autorin die beiden hauptgeschichten nur beobachtend und nicht wertend zusammen. timon, der immer wieder schwierigkeiten macht und seine überforderte mutter werden mit ihrer prekären situation genau so überzeugend dargestellt, wie die ausgrenzung von valentin. erst spät erfährt man mehr über die früheren ereignisse, was dem roman eine gewisse spannung verleiht. der prägnante text kommt wie aus einem guss daher, braucht weder kapiteleinteilungen noch andere strukturen und bleibt trotz der vielen und schnellen perspektivenwechsel gut lesbar. auch wenn sich nicht alle probleme lösen und das gestern immer wieder einen einfluss auf das heute hat, endet das buch offen auf eine versöhnliche art. am ende bleibt das wissen um die vielen kinder, die einfach schlechte startbedingungen haben, und die hoffnung, dass sie auf jemanden treffen, dem sie vertrauen können.

07.12.2021

carlos ruiz zafón: marina

den internatsschüler óscar zieht es abends immer wieder hinaus in die faszinierende stadt barcelona. die alten quartiere durchstreifend lernt er marina kennen, die mit ihrem kranken vater in einer zerfallenden villa lebt. marina ist von einer schwarz gekleideten dame fasziniert, die immer wieder auftaucht und ihren weg kreuzt. gemeinsam verfolgen die beiden jungen leute deren spur und entdecken abenteuerliche geheimnisse um den einst reichsten mann der stadt. dieser michail kolwenik, einst als mittelloser reisender in die stadt gekommen, verdankt den reichtum seiner ausserordentlichen fähigkeit, prothesen jeder art für versehrte menschen zu bauen. im sog dieser geschichte geraten sie in lebensgefahr und erfahren unfassbare dinge über eine grandiose liebe.
der etwas unheimliche und phantasievolle roman, der mich extrem gefesselt hat, erinnert etwas an frankenstein. gruselig und immer irgendwo zwischen den lebenden und dem reich der toten bleibt alles trotzdem realistisch und liest sich mit ein wenig gänsehaut spannend bis zum ende. der autor schafft es vielfarbig und emotionsreich ein bild der stimmung des alten barcelona zu schaffen, was fast zwingend die lust auf eine reise dahin wecken kann. das schicksal und die charaktere der einzelnen menschen berühren einen stark und die handlung ist trotz der komplexität und mystik irgendwie real und recht gut überblickbar.