26.11.2022

thomas röthlisberger: das licht hinter den bergen

1939 tobt der zweite weltkrieg. die schweiz ist für viele menschen der letzte ort der hoffnung. spät abends klopft es an der türe des dorflehrers anton, vor ihm steht anna, eine junge fremde frau und bittet um einlass. sie ist aus dem vorarlbergischen über einen pass in die schweiz geflohen, ihr mann wurde bereits deportiert und erschossen. zunächst zögernd lässt anton sie ins haus, aus der geplanten einen nacht werden wochen. ihre anwesenheit geheim zu halten wird immer schwieriger. es gibt gerede im dorf, aber auch das bisher geordnet verlaufende leben der familie gerät durcheinander. nach wochen wird anna verraten, die polizei holt sie ab. niemand weiss, wohin sie gebracht worden ist, man spricht nicht mehr darüber. lange später, erst nach dem ende des krieges, löst sich das rätsel auf eine unerwartete weise.
spannend entfaltet sich beim lesen eine stimmungsvolle, tiefgründige handlung. die bildgewaltige sprache bringt uns die menschen und deren schicksale, die natur, die landschaft und das dorfleben nahe. treffend werden die beziehungsgeflechte in der dorfgemeinschaft und die nicht einfache familienstruktur dargestellt. das dilemma des ethischen handelns, das sich gegen das herrschende recht stellt, ist ein zentrales moment dieses romans. trotz unwahrscheinlich anmutender elemente bleibt die geschichte realistisch und behält etwas bodenständiges.

20.11.2022

anita shreve: eine gefangene liebe

als charles zufällig das bild von siân richards in der zeitung sieht, erinnert er sich an das jugendlager, in dem sie sich mit 14 jahren getroffen und sich verliebt hatten. die gleichen gefühle sind sofort wieder da und lassen ihn nicht in ruhe. er schreibt ihr nun 31 jahre später und bittet sie unverbindlich um ein treffen. sie antwortet und willigt ein. beide sind inzwischen verheiratet und eltern und führen ein geordnetes leben. sofort ist beim wiedersehen die gegenseitige anziehung wieder da und beginnt ihr bisheriges leben in frage zu stellen. sie treffen sich weiterhin, beide sind getrieben, vom wunsch zusammen zu sein. nichts ist mehr, wie es einmal war.
ganz behutsam beginnt die handlung immer schneller zu drehen und entwickelt einen sog, dem nicht nur die beiden liebenden unterliegen. beim lesen kann man kaum noch innehalten. sehr nahe an den gefühlen und zweifeln führt uns die autorin durch die geschichte. der text bleibt konzentriert und beschränkt sich auf das wesentliche und wirkt – das ist das faszinierende daran – keinen moment moralisierend.

15.11.2022

paolo cognetti: das glück des wolfes

immer wieder zieht es fausto in ein kleines bergdorf in den italienischen hochalpen. nach der trennung von seiner frau verbringt er dort einen ganzen winter, arbeitet als koch in einem saisonrestaurant. hier lernt er silvia kennen, mit der er eine beziehung beginnt. im frühling fährt er nur kurz zurück nach mailand, um seine wohnung zu verkaufen. den sommer über kocht er für die waldarbeiter, während silvia auf einer berghütte im monte-rosa-massiv arbeitet. er kann sich ein gemeinsames leben hier in diesem dorf vorstellen, sie aber zieht es im herbst wieder hinunter in die stadt. er kann sie nicht vergessen und träumt von einem gemeinsamen leben hier oben.
alleine die schilderung der natur im verlauf der jahreszeiten lohnt sich, das buch zu lesen. mit einer ruhigen, bildreichen sprache lässt uns der autor in diese wunderbare gegend eintauchen. mit gut beobachteten details zeichnet er ein liebevolles bild der leute im dorf und des jungen glücks der beiden zugewanderten. die dramatik der wetterphänomene und naturschauspiele sind ebenso zentral wie die begegnung von fausto und silvia. trotz oder vielleicht auch wegen des philosophischen tiefgangs leicht und schön zu lesen.

06.11.2022

regula portillo: andersland

als matilda noch keine sieben jahre alt ist, stirbt pascal, ihr alleinerziehender vater. für pascals bruder tobias und dessen partner michael ist es selbstverständlich, dass sie für das mädchen sorgen werden; die behörden entscheiden jedoch anders. lucia, die mutter, kommt aus mexiko in die schweiz um ihre tochter abzuholen. in der neuen heimat trifft matilda auf lucias familie, in der sie liebevoll aufgenommen wird. während ihrer jugend verliert sie auch ihre mutter, sie kann sich aber auf ihren stiefvater und ihre grosseltern verlassen. sie studiert psychologie, lernt als junge frau ihren mann kennen und wird selbst mutter. gleichzeitig beschäftigt sie die fehlende erinnerung an ihre ersten lebensjahre immer mehr. parallel dazu erfahren wir über tobias und michael, dass deren versuche kontakt aufzunehmen scheitern und all ihre briefe unbeantwortet bleiben. der seinerzeitige entscheid, einem männerpaar die sorge um das kind nicht zu erlauben, belastet tobias schwer. nach einer langen lebenskrise beginnt er, sich für die rechte gleichgeschlechtlicher paare einzusetzen. kurz vor dem ende wendet die geschichte sich zum guten, ein erster kontakt kommt zustande.
die klar strukturierte sprache mit eher kurzen sätzen hindert etwas den lesefluss. der gut und leicht verständliche text erinnert irgendwie an ein jugendbuch. trotz der zahlreich auftretenden personen und der teilweise abrupten szenenwechsel, verliert man den ueberblick nicht, auch wenn wiederholt gewisse sequenzen etwas isoliert dastehen, die keinen wirklichen bezug zum handlungsverlauf haben. die figuren bleiben etwas blass und nicht so greifbar: alle sind irgendwie schön, sympathisch, wohlhabend und leben in geordneten verhältnissen. der roman versucht vielen themen gerecht zu werden, was ihn überladen daherkommen lässt. viele realistische ereignisse und handlungen wechseln ab mit psychologisierenden abschnitten, was etwas konstruiert wirkt. das buch bietet aber einen beitrag zur diskussion über erziehung und kinderbetreuung ausserhalb traditioneller familienstrukturen.

02.11.2022

sasha filipenko: die jagd

der russische oligarch slawin legt sein vermögen im ausland an. zudem führt er in frankreich mit seiner familie ein luxuriöses leben. dies alles passt nicht zu seiner angeblich patriotischen einstellung und seinen politischen ambitionen. anton quint, ein aufrechter journalist, beginnt die machenschaften dieses mannes aufzudecken. deshalb muss er zum schweigen gebracht werden. die jagd auf ihn wird eröffnet, slawin beauftragt einen korrupten journalisten. falsche aussagen über quint werden veröffentlicht, vermutungen verbreitet, drohungen ausgesprochen. scheinbar zufällige begebenheiten und ereignisse stören die ruhe seiner kleinen familie aber quint gibt nicht auf, versucht sich treu zu bleiben. zum schluss läuft die aktion aus dem ruder.
drastisch ist die beschreibung der hinterhältigen methoden, derer sich slawins vasallen bedienen, um den ruf und das leben von anton quint zu zerstören. dieses bild menschenverachtender handlungen und verhältnisse fordert einem beim lesen einiges ab. der autor baut diese geschichte interessant auf, die parallelen der beiden journalisten sind frappierend, nur ist einer der jäger, der andere der gejagte. es zeigt auf, wie klein der unterschied sein kann, der darüber entscheidet, auf welcher seite man steht. ein brandaktuelles werk, das uns erahnen lässt, wie es im heutigen russland zugeht.