26.12.2022

matthias jügler: die verlassenen

johannes, der ich-erzähler, wächst in den 1980er-jahren in halle auf. früh verliert er seine mutter. als er 14 jahre alt ist, verschwindet sein vater. von da an lebt er bei seiner grossmutter, die gut für ihn sorgt. aber den vielen fragen, die johannes beschäftigen, weicht sie aus und lässt ihn ohne antwort. lange nach dem tod der grossmutter findet er einen an seinen vater adressierten brief von einer frau aus norwegen. er fährt zu ihr in der hoffnung seinen vater zu finden. dies erfüllt sich nicht. doch erfährt er die gründe, warum ihm damals vieles unerklärlich war. hier entdeckt er, wie seine eltern wegen staatsgefährdenden verhaltens überwacht und bedroht worden waren.
eine kindheit und jugend in der ddr, beeinflusst durch die tätigkeiten der staatssicherheit, die unsägliches leid mit sich brachte — dies ist das zentrale thema, das ganz aus der perspektive des jungen berichtet wird. knappe und klare sätze prägen diesen text. genau so wie das kind nicht versteht, was hier geschieht, ist es mir ergangen, alles von anfang an zu erfassen. ich musste das buch gleich ein zweites mal lesen, dann aber machte es mich tief betroffen. dieser roman ist in seiner schlichtheit etwas ausserordentliches.

23.12.2022

édouard louis: anleitung ein anderer zu werden

das dorf seiner jugend, in dem er in grosser armut aufwächst ist der ort, den er hinter sich lassen will. er schafft es aufs gymnasium in amiens, der nächstgrösseren stadt. auf der schule findet er in elena eine freundin, mit der er viel zeit verbringt und von deren eltern er wie ein sohn aufgenommen wird. mit aller energie will er seine herkunft abstreifen, verändert sein verhalten und seine sprache, lernt menschen kennen, die ihm neue perspektiven eröffnen. das ihm zunächst als eldorado erscheinende amiens verliert aber seine attraktivität, sein neues ziel ist in paris zu leben. er schämt sich seiner herkunft. getrieben von seinem zwang, der armut zu entfliehen und ein anderer zu werden, verbringt er jahre der unruhe und zweifel. er folgt seinen träumen, will berühmt werden, um es letztlich denen in seinem herkunftsdorf, die ihn verachtet haben, zu zeigen. mit grosser anstrengung und disziplin erreicht er sein ziel. doch bleibt er letztlich seiner vergangenheit verbunden, mit der er sich auch irgendwie versöhnt.
ein weiteres autobiografisches buch von édouard louis mit den bereits bekannten themen seiner herkunft und der damit verbundenen armut, die er hinter sich lassen will. trotzdem ist es wieder spannend und eindringlich zu lesen, weil er meisterhaft versteht nicht nur die zustände zu beschreiben, sondern sich auch immer einer kritischen selbstreflexion unterzieht. trotz aller zielstrebigkeit bleibt er immer bei sich und hinterfragt sein handeln, betrachtet sich von aussen. extrem ehrlich mit sich selbst und authentisch fragt er sich auch, inwieweit er menschen, die ihm begegneten für seinen weg missbraucht hat. auch scheut er sich nicht über seine teilweise misslichen sexuellen abenteuer zu berichten. zutiefst menschlich kommt dieses dilemma eines jungen mannes daher, der nicht nur in armut gross wird, sondern auch seine homosexualität entdeckt.
ob das ganze – wie es der buchtitel verkündet – als «anleitung ein anderer zu werden» taugt, lasse ich dahin gestellt.

19.12.2022

giorgio bassani: der reiher

edgardo limentani lebt auf seinem landgut, einem alten familienbesitz, dem die wirren des faschismus und die darauffolgenden gesellschaftlichen veränderungen etwas zugesetzt haben. auch er selbst findet sich in dieser neuen ordnung, die einen verlust seines status mit sich bringt nicht zurecht. seine frau langweilt ihn, zu seiner kleinen tochter hat er nicht wirklich einen zugang. er entflieht seinem alltag, indem er in die berge auf die jagd geht. die absicht bei dieser gelegenheit seinen neffen ulderico zu treffen, verunsichert ihn. ihr verhältnis trübte sich massiv, als dieser sich den faschisten angeschlossen hatte. er trifft aber nur auf die frau uldericos, die ihn mit ihrer leichten anzüglichkeit verunsichert. als er sich wieder auf die heimfahrt macht, weiss er, dass er all dem ein ende setzen muss.
in einer reich bebilderten sprache lässt uns giorgio bassani in die nachkriegszeit italiens eintauchen und deren umwälzungen erahnen. es ist ein buch, das nicht nur über einen schwierigen lebensentwurf berichtet, über die mangelnde fähigkeit mit veränderungen umzugehen und daran zu scheitern, sondern auch über die stimmung im land nach dem ende des faschistischen regimes.


13.12.2022

emilia smechowski: wir strebermigranten

ein jahr vor dem fall der berliner mauer kommt emilia mit ihren eltern nach westberlin. sie sind aussiedlerdeutsche und erhalten deshalb unkompliziert schnell deutsche pässe und müssen nicht mit der unsicherheit eines asylverfahrens leben. sie gelten als deutsche, verleugnen ihre herkunft, lernen intensiv deutsch und machen alles für eine totale integration. in der oeffentlichkeit sprechen sie nicht polnisch und vermeiden jeden kontakt mit anderen landsleuten. emilia geht dieses verhalten in fleisch und blut über. sie spricht nie über ihre herkunft. den druck zuhause hält sie aber nicht mehr aus, zieht mit sechzehn jahren aus und hält sich mit gelegenheitsjobs über wasser. nach einer ausbildung zur opernsängerin kommt sie zum journalismus, beginnt einen anderen blick auf ihre ursprüngliche heimat zu erhalten und definiert letztlich ihre identität neu.
dieses buch ist ein etwas anderer beitrag zum thema migration. es thematisiert eine einwanderergruppe, der es gelingt, sich ziemlich unsichtbar zu machen. wie assimilation und integration über alles gestellt wird, lässt einen beinahe etwas aufschrecken. der autobiografische text wird ergänzt durch analysierende kapitel, die das ganze in den mir weitgehend unbekannten kontext der aussiedlerdeutschen stellen. das buch findet ein versöhnliches ende und schliesst den kreis der handlung auf eine schöne art.

06.12.2022

nino haratischwili: das mangelnde licht

die jugendjahre der vier frauen fallen in die zeit des politischen umbruchs nach dem ende der sowjetunion und der schwierigen gründung des eigenen staates in ihrer heimat georgien. dina, nene, ira und keto, die die geschichte erzählt, stehen sich seit ihrer schulzeit sehr nahe und bilden, trotz verschiedener charaktere eine eingeschworenen gemeinschaft. sie erleben ihre erste liebe, aber auch viel gewalt und unsicherheit in einer zeit, wo clans um einfluss und macht kämpfen. der neugegründete staat steht auf schwachen füssen, bürgerkriegsähnliche zustände kommen auf. es gibt momente, in denen die jungen frauen abenteuerliche entscheide treffen müssen, bis tod und verrat sie auseinander treiben, jede ihren eigenen weg geht. etwa 30 jahre später treffen sich drei von ihnen wieder an einer ausstellung von fotografien der nicht mehr lebenden dina. hier finden sie irgendwie wieder zueinander.
ein spektakulärer und emotionaler roman, der über 800 seiten einen sog ausübt, dem man unausweichlich unterliegt. die reiche sprache mit kunstvollen sätzen lässt einen wunderbaren lesefluss erleben. trotz der vielschichtigen erzählung und der vielen figuren geht die orientierung nicht verloren. meisterhaft versteht es die autorin vor dem hintergrund der damaligen politischen und gesellschaftlichen ereignisse die persönlichen geschichten der vier frauen aufleben zu lassen. ihre träume, wünsche und unterschiedlichen lebensziele kollidieren immer wieder mit einer männerdominierten gesellschaft, die sich nur ganz langsam zu verändern beginnt. die handlung, die zwischen brutalität und sinnlichkeit pendelt, nimmt einen unweigerlich gefangen. keto, die ich-erzählerin, reflektiert, analysiert und beschreibt daneben immer wieder, was dies alles in ihr auslöst. dieser blick in ihre gedankenwelt spiegelt auf eine spannende und tiefgründige art die realen ereignisse, denen die menschen ausgesetzt sind.