30.06.2023

elif shafak: schau mich an

sie ist extrem übergewichtig – er ist kleinwüchsig: einzeln unterwegs ziehen sie schon alle blicke auf sich. wenn sie gemeinsam auftreten, werden sie von allen angestarrt. deshalb gehen sie nicht gerne aus, am wohlsten fühlen sie sich zuhause in ihrer wohnung. während sie sich permanent mit ihrem dicksein auseinandersetzt und damit hadert, scheint ihn seine kleinwüchsigkeit kaum zu beschäftigen. so zieht sie sich immer mehr zurück, während er sich eher der welt zuwendet und ein lexikon der blicke schreibt, in dem er alle begriffe sammelt, die mit sehen und schauen zu tun haben.
treffend und demaskierend beschreibt die autorin den umgang mit menschen, die irgendwie nicht der norm entsprechen und allein durch ihre erscheinung aechtung erfahren. trotzdem hat mich das buch nicht richtig erreicht. komplex und kompliziert angelegt, mit zeitsprüngen und retrospektiven, die irgendwie schlecht einzuordnen sind, lässt es – etwas unübersichtlich daherkommend – mich ratlos mit der frage zurück, worum es wirklich geht.

21.06.2023

ariane koch: die aufdrängung

eine junge frau lebt alleine in einem grossen haus. sie nimmt einen gast auf, der dann bei ihr lebt. ihr bisher geordnetes leben verändert sich, der gast nimmt neben der zugewiesenen kammer immer mehr raum ein, verhält sich unerwartet und hat ansprüche. die gastgeberin erlebt einschränkungen, aber auch freudige momente. macht und unterwerfung beginnen ihre zufällige beziehung zu dominieren, bis zu dem tag, als der gast das haus verlässt und weiterzieht. auch sie begibt sich auf eine reise und wird ihrerseits zur gästin.
trotz einer kaum vorhandenen handlung geschieht in diesem text ganz viel. immer wieder fasziniert beim lesen die begegnung mit ungewohnt vertrauten gedankengängen. streckenweise sehr abstrakt bleibt das buch stilistisch ein leckerbissen. die nur vage beschreibung der figuren lässt vor allem deren verhalten und handeln ins zentrum rücken. die sprachlich und inhaltlich wunderbaren satzkonstruktionen geben dem ganzen werk eine beachtliche einzigartigkeit.

18.06.2023

lukas baerfuss: eine krume brot

in der schule hat adelina mühe mit rechnen, lesen und schreiben. ihre wirklichen begabungen werden kaum gefördert. so bleibt ihr letztlich als junge frau nur die arbeit in der fabrik. dazu wird sie ungewollt schwanger und nach einiger zeit vom kindsvater verlassen. als alleinerziehende mutter muss sie sehen, wie sie über die runden kommt. sie lernt emil kennen, einen erfolgreichen mann, der nicht nur ihre schulden bezahlt, sondern sich auch liebevoll ihrer tochter emma zuwendet. mit dem kauf eines alten bauernhofs in den piemontesischen bergen scheint emil eine gemeinsame zukunft zu planen. plötzlich verschwindet emma dort und auf der suche nach ihr, trifft adelina auf leute einer revolutionären untergrundbewegung, die ihr anbieten, ihre tochter zu suchen, wenn sie einen gefährlichen auftrag übernimmt.
schon jahre vor der geburt der hauptprotagonistin beginnt der roman und bildet einen schönen einstieg in die exemplarische geschichte über das leben einer frau in immer auswegloserer armut, mit den daraus resultierenden gefahren. verzweigt und immer wieder sich überraschend wendend bleibt die handlung realistisch und besticht nicht zuletzt durch die treffenden schilderungen der aengste und stimmungen. die direkte sprache lässt einen kaum los und bildet das problem der armut und deren folgen unmittelbar und unausweichlich ab. der in die 1970er-jahre gelegte roman ist mit seiner thematik nach wie vor aktuell und trotz des ernsten themas und der tragik schön zu lesen.

12.06.2023

sasha filipenko: der ehemalige sohn

nach einem unfall liegt der junge musiker franzisk im koma. längerfristig wird er von den aerzten aufgegeben, nur seine grossmutter glaubt daran, er werde wieder erwachen. täglich sitzt sie stunden an seinem bett, spricht mit ihm, liest ihm vor und pflegt ihn. nach zehn jahren erwacht er aus seinem koma und erholt sich unwahrscheinlich schnell. zurück im alltag trifft er auf ein land, in dem sich kaum etwas verändert hat. alles ist noch gleich wie damals: der gleiche präsident an der macht, die gleichen schwierigkeiten im land. für den jungen franzisk, der zehn jahre seines lebens nachholen will, ist dies nicht der ort. er entscheidet sich das land richtung deutschland zu verlassen. aber bei der erlangung des visums tauchen unerwartete schwierigkeiten auf.
ohne seinen tiefgang zu verlieren, ist dieser hochaktuelle roman humorvoll und leicht zu lesen. die manchmal etwas unwahrscheinlichen umstände, die etwas skurrile handlung, tun der ernsthaften auseinandersetzung mit dem thema macht und unterdrückung durch einen diktator keinen abbruch. die subtile beschreibung der mechanismen in einem zunehmend totalitären staat ist bestechend. auch wenn diese geschichte an vielen orten auf der welt handeln könnte, wird spätestens bei der ersten erwähnung von minsk die vermutung bestätigt, dass es sich um belarus handelt..

03.06.2023

riikka pulkkinen: wahr

elsa ist krank und weiss, sie hat nicht mehr lange zu leben. seit vielen jahren trägt sie noch ein familiengeheimnis mit sich. als anna, ihre mittlerweile erwachsene enkelin, sie besucht, findet sie im schrank ein kleid, das sie ihre grossmutter noch nie hat tragen sehen. das kleid gehört einer anderen frau und elsa beginnt von einem verhältnis zu erzählen an das sie nie mehr hat denken wollen, das ihre ehe beinahe zum scheitern gebracht hat. anna, geht den spuren dieser anderen frau nach, sucht dokumente und zeitzeuginnen. so erfährt sie vieles, was in der familie lange verschwiegen worden ist.
ein vielschichtiges buch, dessen primäre handlung die basis für eine philosophische auseinandersetzung über treue, vertrauen und vergebung darstellt. nach einem nicht ganz einfachen einstieg, tut sich eine fesselnde geschichte auf, die gegen ende in eine berührende betrachtung mündet. während sich der anfang etwas hinzieht und sich auch etwas sehr kreativ in details verliert, wird der letzte teil zu einem spannenden und intensiven leseereignis.