30.12.2024

alia trabucco zerán: mein name ist estela

estela, aus armen, ländlichen verhältnissen stammend, entscheidet sich, eine stelle als hausangestellte bei einem wohlhabenden ehepaar anzunehmen. auch wenn sie eine zuverlässige kraft ist, vertrauen ihr die dienstgeber nur zögernd. als die tochter julia zur welt kommt, arbeitet die mutter bald weiter und überlässt das kind oft ihrer angestellten. mit verschiedenen tragischen ereignissen konfrontiert finden sich alle immer mehr in einer schicksalsgemeinschaft. jedes familienmitglied hat im verlauf der zeit geheimnisse, die nur mit der schweigenden hausangestellten geteilt werden. nach dem tragischen tod von julia wird estela verdächtigt schuld daran zu sein. nach vielen jahren treuer arbeit wird sie ohne beweise entlassen und steht mittellos auf der strasse.
es ist nicht nur ein parabelhafter roman über arm und reich, sondern auch ein soziogramm der abhängigkeiten und beziehungen, die hier aus der optik der gut beobachtenden hausangestellten berichten. estela analysiert die ambivalenz des verhaltens des paares ihr gegenüber, ihre krisen und beleuchtet die wechselseitigen abhängigkeiten. wie sie letztlich als arme angestellte auf sich selbst zurückgeworfen wird, wird zum exemplarischen beispiel dieser klassengesellschaft. die nicht chronologisch erzählte geschichte, die sich beim lesen sehr unmittelbar an einen richtet, hält die spannung bis zum schluss aufrecht. das brillant geschriebene, leicht zu lesende zeugnis einer intelligenten, aber unterprivilegierten frau macht einen nachhaltigen eindruck.

25.12.2024

arno geiger: das glückliche geheimnis

immer wieder ist er unterwegs, um in altpapier-containern nach büchern, nachlässen und dokumenten zu stöbern. er sucht nach historischen schriften und sammlungen von briefen, die ihm als quelle für seine schriftstellerische arbeit dienen. aber auf diesen streifzügen könnte er auch zu den armutsbetroffenen und obdachlosen gezählt werden, deshalb hält er sein tun vor allen geheim. je bekannter der autor selbst wird, desto mehr fürchtet er erkannt zu werden. nur seine freundin, mit der er eine nicht immer einfache beziehung pflegt – sie trennen sich mehrmals und kommen wieder zusammen – weiss von seinem geheimnis. mit zunehmendem alter wird die liebe zu ihr grösser und die beziehung ausgeglichener. die ausflüge werden jedoch schwieriger: das radfahren und das eintauchen in die grossen container erfordert kraft, die langsam weniger wird.
der biografisch angelegte roman hat eine stark philosophische komponente. seine realitätsbezogenen reflexionen und seine sicht auf seine arbeit sind sehr persönlich und man fühlt sich beim lesen beinahe wie ein naher freund. ein sehr reifer text, der auch gedanken über ein allfälliges ende seiner schriftstellerischen arbeit durchscheinen lässt. ein gedanke, den ich verstehen kann, der mir als leser aber nicht gefällt.

17.12.2024

thomas strässle: fluchtnovelle

er ist auf einer studienreise unterwegs in weimar, sie auf einer exkursion der kunsthochschule dresden, als sie sich treffen. sie verlieben sich ineinander und wollen die zukunft gemeinsam verbringen, dies aber nicht in der ddr. in den 1960er jahren sind die grenzen zwischen ost und west ein kaum zu überwindendes hindernis, aber er beginnt mit einer minutiösen planung für ihre flucht. sie bereitet sich darauf vor, ohne auch nur mit ihren nächsten darüber sprechen zu können. ein gewagter plan, der viele risiken birgt. bis kurz vor der ausreise läuft alles wie vorgesehen, doch im entscheidenden moment ändert sich die sachlage – improvisation ist gefragt.
mit herzklopfen habe ich diese so klein daherkommende, grosse geschichte gelesen. die spannend aufgebaute erzählung lässt einen von der ersten seite an mitfiebern und hoffen, den beiden möge dieses abenteuer gelingen. konzentriert und präzis werden nicht nur die ueberlegungen, aengste und handlungen beschrieben, sondern auch welche folgen die flucht für angehörige und freunde haben kann. trotz der vielen geschilderten details bricht die spannung nicht ab, so dass ich das buch ohne unterbrechung zu ende lesen musste.

15.12.2024

reinhard kaiser-mühlecker: brennende felder

in ihren mädchenträumen wünscht sich luisa, später einmal ihren stiefvater bob zu heiraten. jung zieht sie von zuhause aus und hat später zwei kinder aus zwei ehen, die aber bei ihren vätern leben. als bob viele jahre später unvermutet bei ihr auftaucht, beginnt nicht nur eine beziehung, sie ziehen auch zurück ins dorf ihrer herkunft. bob hat aber auch eine dunkle seite: er bricht auf nächtlichen ausflügen zum diebstahl in anderer leute häuser ein. dabei wird er einmal überrascht und erschossen. ueber dieses als unfall eingestufte ereignis wird im dorf fortan geschwiegen. später begegnet luisa ferdinand, dem mörder ihres mannes und beginnt sich ihm zu nähern. doch da gibt es widerstand von ferdinands sohn anton, den sie erst nach längerer zeit überwinden kann um bei den beiden einzuziehen. nach der anfänglichen euphorie stellt sich der alltag ein: ferdinand ist ein schweigsamer, schwer zu deutender mensch. das gemeinsame leben gestaltet sich immer schwieriger bis sie sich letztlich wieder trennen. luisa bleibt immer eine latent unzufriedene suchende.
die trotz allem irgendwie faszinierende handlung liefert der geschichte nur das gerüst. der roman spricht viele themen an: verlassen der kinder, beziehungsstress und einsamkeit sind nur einige davon. als aussenstehender betrachter beschreibt der autor schuldgefühle, interpretationen, projektionen und vieles mehr, das luisas leben beherrscht. unkommentiert schildert er ihre emotionen und vermeidet damit jede wertung. der bann, den dieses buch beim lesen auszulösen vermag, ist nicht nur der schönen sprache und dem gut fliessenden text geschuldet, sondern auch der einzigartigen einfühlung in diese gedankenwelt.

09.12.2024

sarah kuratle: greta und jannis

die nachbarskinder kennen sich schon von klein auf. beim gemeinsamen spiel äussert jannis den wunsch, gretas bruder zu sein. als jugendliche verlieben sie sich ineinander. doch sie dürfen kein paar sein, weil sie – was sie lange nicht wissen – geschwister sind. jannis geht in die stadt um dort das gymnasium zu besuchen, greta ins hinterste dorf im tal, ihrer grosstante zu helfen, die ausgesetzten kindern ein zuhause bietet. aber immer wieder reist greta für ein paar tage weg. sie fährt zu jannis in die stadt. ihre liebe, ihr verlangen bleibt gegenüber den anderen ein geheimnis.
in einer sphärisch anmutenden sprache wird hier die geschichte dieser zwei jungen menschen erzählt in der die handlung oft nur zu erahnen ist. der weitgehende verzicht auf das wort «und», wie auch die komplexen satzkonstruktionen mit der darin oft ungewohnten stellung des subjekts erzeugen einen ganz eigenen lesefluss, dem zu folgen eine hohe konzentration erfordert. ein literarisches erlebnis ganz besonderer art tut sich in diesem buch auf, das mir sicher lange in erinnerung bleiben wird.

03.12.2024

pierre lemaitre: spiegel unseres schmerzes

auf vier verschiedene schauplätzen handelt der roman. die grundschullehrerin louise arbeitet nebenher im restaurant von monsieur jules. einer der gäste macht ihr ein unseriöses angebot, auf das sie nach einigem zögern einsteigt, was sie letztlich vor gericht bringt. der unglaubliche hochstapler desiré migault, der sich die kriegswirren zunutze macht, tritt als rechtsanwalt und verteidiger von louise auf. später erscheint er als regierungsmitarbeiter, chirurge und priester. zur gleichen zeit liegt raoul landrade als soldat mit seiner einheit im kampf gegen die 1940 einmarschierende deutsche wehrmacht. bald ist er auf der flucht, auf der er unwahrscheinliches erlebt. und dann gibt es fernand, dessen freundin alice paris zur sicherheit schon verlassen hat, er aber einen gefangenentransport bewachen muss. alle sind bald unterwegs in diesem grossen flüchtlingstreck nach süden. auch monsieur jules und louise finden sich darin wieder. diese vier erzählstränge, die zunächst wenig gemeinsam haben, laufen in einer genialen weise aufeinander zu und finden ein erstaunliches ende.
in diesem unterhaltsamen, aber auch tiefgründigen roman treten vor dem hintergrund realer geschichtlicher ereignisse menschen in sehr unterschiedlichen lebenslagen auf. letztlich ist es immer mehr deren ziel, die kriegswirren zu überleben. mit viel fantasie komponiert der autor eine brillant geschriebene geschichte, die immer wieder ethische fragen aufwirft und die wahren werte des lebens unter solchen extremsituationen zur diskussion stellt. teilweise unglaubliche bis unwahrscheinliche passagen und an unmöglichkeit grenzende ereignisse und zufälle gehören genau so dazu, wie starke emotionale momente, die mir beim lesen nahe gegangen sind. spannend von der ersten bis zu letzten seite lässt sich das buch kaum aus der hand legen.