30.09.2025

charles lewinsky: andersen

als embryo erlebt der spätere jonas seine wiedergeburt. bewusst nimmt er alles wahr. zudem kann er sich an sein vorheriges leben erinnern, in dem er in einem totalitären system verhöre führte und auch vor folter nicht zurückschreckte. nun will er ein besserer mensch werden. nach der geburt muss jonas sehr aufpassen, sich nicht zu verraten; er muss sich an die entwicklungsschritte eines kleinkindes halten um nicht aufzufallen. sein ziel ist, sich möglichst früh von seinen eltern abzusetzen um seine vergangenheit im früheren leben zu erforschen. das braucht etwas geduld, aber nach 12 jahren ist es soweit. jonas verlässt seine eltern und bleibt für diese verschwunden. selbst ist er nun auf der suche nach seiner damaligen familie und trifft dabei auf seinen inzwischen etwa gleichaltrigen enkel. es ist das erste mal, dass er jemanden zum freund haben will. das ganze endet jedoch nicht gut.
aus der perspektive des kindes jonas und des vaters arno wird dieser fantasievolle roman erzählt. spannend, grotesk aber auch tiefsinnig entwickelt der autor eine abenteuerliche handlung, die abgründe menschlichen verhaltens ebenso auftut, wie sie alltägliche szenen des familienlebens beschreibt. immer wieder wechseln sich lustig humorvolle kapitel mit eher gruseligen abschnitten ab. das buch bleibt durchgehend spannend, das ende zieht sich dann jedoch etwas hin. die geschichte hat aber auch eine moral und zeigt den unlösbaren konflikt zwischen dem bösen und dem guten auf.

22.09.2025

gianni jovanovic: ich, ein kind der kleinen mehrheit

gianni ist in eine roma-familie geboren und wächst mit deren traditionen auf. als kind wird er, allein weil er roma ist, ohne weitere abklärung in eine sonderschule eingeschult. bereits mit 15 jahren wird er mit einer 14-jährigen frau verheiratet, ein jahr später ist er bereits vater. zu jener zeit weiss er bereits von seiner homosexualität, er macht damit auch seine ersten erfahrungen. wegen seines comming-outs anfangs 20 muss er seine familie verlassen. mehr als zehn jahre später blickt er zurück auf seine entwicklung und politisierung, die ihn zu dem gemacht hat, was er heute ist. mittlerweile ist er mit seinem freund verheiratet und kämpft für aufklärung und toleranz.
hier liegt eine biografie vor, wie es sie selten gibt. macht, kraft und drama sind die ersten begriffe, die mir dazu einfallen. mit einer abgeklärtheit und grosser reife blickt der autor zurück auf sein bisheriges leben. ausserordentlich persönlich vermittelt er uns seine eigene geschichte. damit lässt er uns in die meist unbekannte lebensrealität der sinti und roma blicken, deren verfolgung, deren leiden, aber auch deren zusammenhalt und fröhlichkeit. dieses sehr politische buch, das die diskriminierung von vielen verschiedenen menschengruppen aufzeigt, besticht vor allem durch offenheit. die eigenen erfahrungen und reflexionen machen gianni zu einem fürsprecher für viele minderheiten, die er ganz bewusst «kleine mehrheiten» nennt. das buch ist in zusammenarbeit mit der journalistin oyindamola alashe entstanden, deren kurzes nachwort das werk abrundet.


18.09.2025

giovanni orelli: der lange winter

ein langer winter bestimmt das leben im bergdorf, tief verschneit sind die strassen, das leben steht beinahe still. die angst vor einem lawinenniedergang ist überall spürbar. ein nachbardorf wird verschüttet und auch die eigene zufahrtsstrasse wird unpassierbar, so dass die menschen aus der luft mit lebensmitteln versorgt werden müssen. die regierung verlangt die evakuation. während die jungen eine bessere zukunft sehen und schnell damit einverstanden sind, können die alten sich nicht vorstellen, das dorf zu verlassen, geben aber schliesslich nach. alle ziehen mit dem gesamten viehbestand hinunter in die ebene, wo sie bei verwandten und bekannten unterkommen und in eine ungewisse zukunft blicken. doch die ersten überlegen schon eine rückkehr im frühling.
in einer schlichten, aber bildhaften sprache vermittelt der autor den eindruck dieser landschaft und präzis beschreibt er das leben der dorfgemeinschaft. generationenkonflikte und persönliche beziehungen bestimmen im alltag die schwierigen entscheidungen. das buch ist ein stück geschichte über die abwanderung aus der alpenregion. alles kommt beim lesen eindrücklich nahe und hinterlässt ein bild über das schicksal, die heimat zu verlieren.

07.09.2025

tomi scheiderbauer: ich bin - meine freund:innen, der tumor und die kunst

als der autor mit der diagnose multiples myelom konfrontiert wird, verändert sich sein leben für eine längere zeit drastisch. diese lebensbedrohende krankheit des blutes erfordert eine komplizierte, langwierige therapie, deren erfolg ihm zu beginn niemand versprechen kann. er entscheidet sich aber dafür und beginnt diese reise durch chemotherapien, bestrahlungen, stammzellentransplantation und isolationen. dabei protokolliert er nicht nur seine beobachtungen und gefühle, sondern blickt auch zurück auf verschiedene momente seines lebens.
der einstieg ins buch ist nicht ganz einfach, dann beginnen diese persönlichen texte jedoch zu berühren und holen einen stark ein. aktuelle ereignisse lösen immer wieder erinnerungen an momente seines bisherigen lebens aus, was ihn den weg durch diese schwere zeit mit viel mutiger gelassenheit bewältigen lässt. berührend beschreibt er, wie er zeitweise auf das existenzielle reduziert ist. seine persönlichen begegnungen werden eingeschränkt. neben dem medizinischen personal, das er als einzigartig liebevoll und kompetent erlebt, darf ihn zeitweise nur seine partnerin francesca besuchen. daneben gibt es einen kleinen freundeskreis, auf den er sich verlassen kann. diesen menschen widmet er dankbar viele gedanken. seine wiederholt aufblitzende fröhlichkeit, seine hoffnung und sein humor – der fern von galgenhumor bleibt – sind tröstend und erfrischend.

03.09.2025

bryan washington: dinge an die wir nicht glauben

ben und mike leben seit vier jahren in houston als paar zusammen. aber sie sind sich ihrer liebe nicht mehr so sicher. immer wieder haben sie konflikte, bei denen die fetzen fliegen und die jedes mal mit einer versöhnung im bett enden. die nicht einfachen familienverhältnisse der beiden beeinflussen sie immer wieder. bens eltern leben getrennt, die von mike haben den damals 19-jähringen bei ihrer heimkehr nach japan in amerika zurückgelassen. als mike von der schweren krankheit seines vaters erfährt, entscheidet er sich zu ihm zu fahren, um ihn bis zum tod zu pflegen. am tag vor seiner abreise kommt mikes mutter, die resolute mitsuko, aus tokio zu besuch. so bleibt sie mit ben, den sie bisher nicht kannte, in der wohnung zurück. durch gegenseitiges erzählen lernen beide mike auf eine andere weise zu sehen.
ein erfrischender roman in einer ganz eigenen direkten und unkomplizierten sprache, der diese spannende und tiefgründige geschichte erzählt. auf ihre art leicht daherkommend, vermittelt sie gleich mehrere bilder. vor dem hintergrund einer multikulturellen gesellschaft mit sehr unterschiedlichen wertehaltungen werden etliche beziehungsmuster porträtiert. angenehm realistisch versteigt sich der autor nicht in sich anbietende psychologische clichés, sondern führt die handlung realistisch und bodenständig weiter. das offene ende lässt einen aus eigener fantasie eine fortsetzung ausdenken.