eine nordenglische stadt, die nach der
schliessung des kohlebergwerks mit ihrem wirtschaftlichen niedergang
kämpft, ist alles andere als ein queerfreundliches milieu. hier lebt
simon, verdient sich sein geld in einem callcenter und mit sexarbeit.
seine wahre passion sind aber seine auftritte als dragqueen in clubs
im benachbarten sheffield. sein freund ryan verdient sich sein brot
als security in einem einkaufszentrum. simons vater alex war – wie
auch sein vater – jahrelang bergmann und die erinnerung an seine
arbeit holt ihn immer wieder ein. als er von der beziehung seines
sohnes zu einem anderen mann erfährt, geht er gelassen und
unaufgeregt damit um. simon ist eher überrascht, denn er weiss noch
nichts vom gleichen verlangen seines vaters, das dieser nur sehr
verborgen auslebt. simon plant einen auftritt in seiner heimatstadt,
der nicht nur die glamouröse drag zeigen, sondern auch eine
politische botschaft haben soll.
die kurzweilig zu lesende
familiengeschichte erstreckt sich über drei generationen. ohne zu
sehr ins detail zu gehen, versteht es der autor ein klares bild über
die menschen und ihre lebensumstände entstehen zu lassen. da die
emotionen der protagonisten leider etwas an der oberfläche bleiben,
lässt sich viel vom leben in dieser maroden umgebung jedoch nur
erahnen. der roman bewegt sich auf drei ebenen, von denen zwei die
geschichte erzählen und die dritte sich mit einer feldstudie
befasst, die die sozioökonomischen verhältnisse darzustellen sucht.
sie bleibt hingegen eher ein schwer verständlicher fremdkörper.
insgesamt lesenswert ist das buch trotzdem.
steilacotschna
lesen ist das kino mit meinen eigenen bildern
20.08.2025
andrew mcmillan: herzgrube
14.08.2025
claudie gallay: die brandungswelle
ein fremder erscheint in einem dorf an
der atlantikküste. hier, wo kaum jemand unbekannter auftaucht, wird
er von allen beobachtet – das gibt zu reden für die leute. so
fremd ist lambert aber nicht: vor 40 jahren sind seine eltern und
sein bruder von einer bootsfahrt nicht mehr zurückgekommen. ein
unglück über das hier geschwiegen wird, weil es nicht hätte
geschehen müssen. lambert will die wahrheit darüber erfahren. dabei
kommt er auf die spur von michel, der von der leiterin des örtlichen
waisenhauses damals adoptiert wurde. als jugendlicher ist michel
eines tages ohne abschied weggegangen. langsam kommen einzelne
tatsachen zu tage, das schweigen der dorfleute beginnt zu bröckeln
und lambert beginnt zu begreifen, dass sein bruder damals überlebt
haben muss.
die geschichte wird aus der sicht einer
ortsfremden ornithologin erzählt, die hier forschungen betreibt. so
lässt sie den blick von aussen auf diese kleine eingeschworene
dorfgemeinschaft zu. fast wie in einem kriminalroman beginnen sich
einzelne fakten und erkenntnisse zu einem ganzen zu fügen. parallel
dazu erfährt man manches über die verhältnisse der leute
untereinander, über streitereien, lieben und abhängigkeiten. auch
wenn die handlung vielschichtig und spannend ist, überzeugt das buch
vor allem durch die eindrücklich bildhaften beschreibungen von
himmel, meer und landschaft.
07.08.2025
dmitrij kapitelman: russische spezialitäten
seit etlichen jahren lebt die
russisch-ukrainische familie in leipzig. die mutter betreibt den
«магазин» (magazin),
ein geschäft in dem russische waren verkauft werden. die ganze
familie ist involviert, auch der sohn, aus dessen perspektive erzählt
wird, kann sich dem nicht entziehen. als der krieg ausbricht, ändert
sich alles. die mutter informiert sich nur über russisches
staatsfernsehen und glaubt die ganze propaganda. der vater schweigt
weitgehend und der sohn steht auf der seite der ukrainer. um wieder
waren für den magazin einzukaufen reist er – für einen jungen
mann nicht ungefährlich – in die alte heimat, wo er seine früheren
freunde trifft. russisch zu sprechen, was damals ebenso normal war
wie ukrainisch, wird jetzt zunehmend zum problem.
ein einzigartiger roman, der mit viel
situationskomik die unsäglichen verhältnisse beschreibt, die der
krieg mit sich bringt. mit einem gewissen galgenhumor, aber auch
einem feinsinnigen zugang zu dieser zerrissenen gesellschaft,
versteht der autor aufzuzeigen, wie schwierig das leben geworden ist
und mit welchen strategien menschen mit der werteveränderung
umgehen. immer mehr wird mir beim lesen bewusst, wie wenig ahnung ich
von dieser realität habe. trotz aller schwere leuchten immer wieder
schöne und witzige momente auf, die auch hoffnung zulassen. ein ganz
besonderer beitrag, der sich von der täglichen
kriegsberichterstattung wohltuend abhebt.
04.08.2025
dani shapiro: leuchtfeuer
die
wilfs sind eine glückliche familie, die in einer ruhigen strasse in
einem new yorker vorort wohnt. doch dann ändert ein ereignis ihr
leben. ihr sechzehnjähriger sohn theo verursacht betrunken einen
unfall. er und seine schwester überleben, misty, eine freundin aus
der nachbarschaft, stirbt. nur ben, der vater, weiss ausser den
beiden, was wirklich geschah: alle tragen schwer an diesem geheimnis.
auch in der familie, die gegenüber auf der anderen strassenseite
lebt, gibt es probleme und schwierige momente. shenkman, der vater
tut sich schwer mit seinem hochbegabten sohn wildo, zu dem er kaum
zugang findet. eines nachts reisst der junge von zuhause aus und
trifft zufällig auf ben, der ihn auf anhieb zu verstehen scheint. so
entsteht eine ganz besondere beziehung zwischen den beiden, die ein
leben lang hält.
dieser
amerikanische – in einem moderat gelebten jüdischen milieu
angelegte roman – liest sich gut und flüssig, ist jedoch
streckenweise an handlung etwas überladen. emotionale bilder, die
einen beim lesen sehr bewegen sind die stärke dieser geschichte.
zwar sind die zeitsprünge dank der eingefügten datumsangaben gut
nachvollziehbar, machen aber einen eher konstruierten eindruck. der
etwas abrupte schluss lässt einige fragen offen. insgesamt aber ein
schönes und unterhaltsames buch, das ein paar lebensprobleme
anspricht.
28.07.2025
charles ferdinand ramuz: derborence
ein bergsturz verschüttet die alp, wo sich etwa zwanzig menschen mit vielen tieren während des sommers aufhalten. im dorf herrscht grosse trauer. auch antoine, der ehemann von thérèse, wird vermisst. wochen später erscheint er im dorf, hat in einer verschütteten hütte überlebt und nach langem einen weg aus dem geröll gefunden. doch er ist nicht mehr der, der er zuvor war. gezeichnet vom erlebten geht er zurück, um seinen freund séraphin, der mit ihm unterwegs war und von dessen ueberleben er überzeugt ist, zu suchen. thérèse folgt ihm und versucht ihn von seinem aussichtslosen unterfangen zurückzuholen, um ihm endlich sagen zu können, dass er vater wird.
der roman ist inspiriert von einer historischen begebenheit. 1749 ereignete sich der bergsturz von derborence, bei dem viele alphütten zerstört wurden und vierzehn menschen ums leben kamen. der einfluss der religion und die wertehaltung in der dörflichen gemeinschaft jener zeit prägen den umgang mit der katastrophe und das verhalten der menschen gegenüber dem psychisch veränderten antoine. dies und die beschreibung der lebensumstände der damaligen bevölkerung macht das buch zu einem zeitdokument, das in unserer zeit der bergstürze und murenabgänge eine besondere aktualität erhält. nicht zuletzt deshalb ist es auch spannend diese geschichte zu lesen.
08.07.2025
michael köhlmeier: die verdorbenen
es zieht johann weg von zuhause nach
marburg ins studentenleben, wo er die neue freiheit geniesst. er lernt
christiane kennen, die schon seit ihrer frühen jugend mit tommi
zusammen ist. dies hindert sie nicht, gianni – so nennt sie johann
– unmissverständlich mitzuteilen, sie wolle mit ihm das bett
teilen. tommi reagiert locker und es beginnt eine art
dreiecksverhältnis. aber johann ist sich klar, dass er christiane
nicht liebt. ihre spröde und emotionslose art verstört ihn eher.
nach einigen erfahrungen geht er auf distanz: er reist weg und kommt
nach einer kleinen odysee in oostende an. eines nachts wird er
überfallen, tötet in notwehr den angreifer und flüchtet zurück zu
christiane. alles scheint so, wie er es verlassen hat, doch da
entdeckt er tommi tot in seinem blut auf dem bett liegen. er will
sich als täter stellen um christiane zu schützen und fragt sich
erneut, ob er sie doch liebt. auf der polizeiwache trennen sich ihre
wege. vierzig jahre später begegnen sie sich wieder. alles beginnt
von vorne.
eine eher eigenartige geschichte, in
die man sich zunächst einfinden muss. mit dieser etwas speziellen
handlung stellt der roman jedoch entscheidende lebensfragen. deren
nichtbeantwortung lässt einen beim lesen selbst schlüsse ziehen und
seine eigenen beziehungsmuster hinterfragen. auch wenn die charaktere
etwas blass bleiben, nehmen sie gestalt an und bieten
identifikationsmuster. das zentrale thema, die ambivalenz in einer
beziehung, ist überzeugend dargestellt, was das buch sehr lesenswert
macht.
04.07.2025
ariel lawhon: der gefrorene fluss
im ausgehenden 18. jahrhundert lebt die
hebamme martha ballard in maine. sie übt ihren beruf schon seit
vielen jahren aus, hat mehrere hundert geburten begleitet und ist
eine anerkannte medizinalperson. selbst zieht sie mit ihrem ehemann
ephraim neun kinder gross. ueber all ihre tätigkeiten und das
geschehen am ort führt sie über jahre ein tagebuch. als die leiche
eines mannes aus dem beinahe zugefrorenen fluss geborgen wird, ruft
man sie zur leichenschau. schnell ist klar, der tote ist nicht
ertrunken, sondern wurde zuvor ermordet. am abend vorher war ihr
ältester sohn in eine schlägerei mit diesem mann verwickelt, weil
er die ehre seiner schwester verteidigt hatte. schnell fällt der
verdacht auf ihn: er wird verhaftet. gerüchte machen die runde und
es wird viel geredet, jedoch martha will die wahrheit finden und
lässt sich nicht beirren. ihre familieninteressen und ihre
berufsethik stehen sich gegenüber, die ihr schwierige entscheide
abfordern. hinter allem steht ein einflussreicher mann, dem es vor
allem um die wahrung seiner ehre und ums geld geht.
der weitläufige, handlungsreiche roman
ist nicht nur eine art krimi, sondern vor allem inspiriert von der
geschichte martha ballards, einer legendären hebamme. eindrückliche
schilderungen der damaligen lebensumstände dieser rauen
einwanderergesellschaft in einer ländlichen gegend beeindrucken
ebenso wie die beschreibungen der rolle der frauen. mütter
unehelicher kinder, für die sich martha besonders einsetzt, sind
damals geächtete personen. trotz der vielen handlungsstränge und
der grossen zahl von personen ist es nicht schwierig, den ueberblick
zu behalten. detailliert gezeichnete menschen und orte, viele
emotionen und dramatische situationen halten eine ausserordentlich
starke spannung aufrecht. einmal begonnen zu lesen, lässt sich das
buch kaum noch aus der hand legen.