30.11.2014

jesús carrasco: die flucht

weshalb der junge von seiner familie aus seinem dorf flieht, erfährt man nur langsam; wie beschwerlich diese flucht durch die trockene und menschenleere gegend ist, wird aber sofort klar. sein ueberleben ist zunächst nur dadurch gesichert, dass er auf einen ziegenhirten trifft. gemeinsam sind sie unterwegs, aufeinander angewiesen und irgendwie unfreiwillig von einander abhängig. die moralische integrität des hirten auch in schwierigsten situationen hat beinahe etwas biblisches und wird vom jungen nicht immer sofort verstanden.
die geschichte einer flucht mit vielen entbehrungen und existenzbedrohenden situationen in denen die handelnden an gewissensgrenzen stossen. eindringlich vor allem, weil dem kind seine lebenssituation ausweglos scheint und es damit unbewusst in situationen gerät, von denen unklar bleibt, ob sie nicht schlimmer sind, als das leben zuhause.
so archaisch die landschaft ist, so archaisch ist auch die sprache mit ihrer unerbittlichen deutlichkeit.

23.11.2014

marlene van niekerk: agaat

auf ihrer farm in südafrika liegt milla zunehmend gelähmt in ihrem bett und wird von agaat, ihrer schwarzen hausangestellten, bis zu ihrem tod gepflegt; agaat, die sie als kleines mädchen noch zu zeiten der geltenden apartheitsgesetze bei sich aufgenommen hatte, um sie vor dem sicheren tod zu bewahren. unbeweglich ans bett gefesselt blickt milla auf ihr leben zurück. ein weiterer handlungsstrang sind ihre tagebücher.
wir erfahren viel aus ihrem leben: von den schwierigkeiten auf der farm, von der schwierigen ehe mit jak und von ihrem sohn jakkie, der weitgehend von agaat grossgezogen wurde und ihr letztlich näher stand als der eigenen mutter.
dieser intensive gesellschaftsroman führt uns nicht nur die unmenschlichen apartheitsgesetze und die haltung der weissen südafrikanischen gesellschaft vor augen, sondern erzählt vor allem die geschichte zweier frauen, deren gegenseitige macht- und abhängigkeitsverhältnisse sich im verlauf des lebens ins gegenteil kehren. ein buch mit einer subtil vermittelten politischen botschaft, das den beginn des untergangs einer gesellschaftsordnung vermittelt.


20.11.2014

jakob arjouni: chez max

2064 besteht die welt aus nur noch zwei herrschaftsbereichen. der wohlhabende eurasisch-amerikanische teil, der von einem 60'000 kilometer langen unüberwindlichen zaun vom rest der welt getrennt ist. dort herrschen armut, anarchie, seuchen und gewalt. im reichen teil funktioniert nichts ohne genaue regeln, systematische ueberwachung und kontrolle. „chez max“ ist ein deutsches restaurant in paris, das lediglich als tarnung für den ashcroft-mann max dient. die ashcroft-behörde, benannt nach dem seinerzeitigen us-justizminister, ist das zentrum der gesamten ueberwachung und kontrolle der bevölkerung. noch weitere sicherheitseinrichtungen sorgen für das wohl der menschen, was nicht immer unproblematisch ist. aber auch innerhalb seiner organisation hat max einen schwierigen partner.
eine einzigartige, aber auch beängstigende vision über die welt in fünfzig jahren, witzig, mit unendlicher fantasie und feinem, aber unerbittlichem sarkasmus geschrieben. was heute in unserem realen leben in ansätzen sichtbar ist, wird hier auf eine sensationelle art überzeichnet und damit auch karikiert. in einem zug ohne unterbrechung zu lesen.

18.11.2014

agota kristof: gestern

der start ins leben ist für den kleinen tobias alles andere als schön. seine mutter ist arm und lebt als prostituierte am rand des dorfes. eines tages sticht er den auf seiner mutter liegenden lehrer mit einem messer in den rücken und flüchtet. in einem anderen land verdingt er sich als fabrikarbeiter und trifft dort später auf seine frühere schulfreundin. sein heimweh und seine unerfüllte liebe zu ihr lässt ihn eine weitere untat begehen.
mit einer klaren sprache und kurzen einfachen sätzen erleben wir lesend eine berührende geschichte über liebe, heimweh, träume und wünsche. der blick in das denken und handeln dieser menschen tut sich unerwartet klar auf. es ist ein leises und schönes buch mit einer traurigen handlung.

10.11.2014

birgit vanderbeke: die sonderbare karriere der frau choi

irgendwann taucht frau choi auf, in diesem südfranzösischen, von abwanderung und strukturschwäche geplagten dorf. geschäftstüchtig eröffnet sie ein asiatisches restaurant in einer stillgelegten fabrik, welches schnell zu einem angesagten treffpunkt wird. eine ihrer angestellten wird von ihrem ehemaligen freund immer wieder bedroht. als dieser nach einem essen im restaurant am nächste tag tot ist, scheint es zusammenhänge zu seinem ableben und anderen leichen zu geben. nichts aber lässt sich wirklich beweisen
eigentlich ist das buch ein krimi, aber für mich steht eher die integrations- oder nichtintegrationsgeschichte der frau choi im vordergrund. meisterhaft wird diese südfranzösische dorfgemeinschaft mit ihren regeln und geschichten beschrieben und parallel dazu das koreanische leben der frau choi.
die neben der beschreibenden handlung einhergehenden kommentare machen das lesen zu einem ganz besonderen amusement.

06.11.2014

mary shelley: frankenstein

wer kennt es nicht, das frankenstein-monster? oder wer hat nicht zumindest schon darüber gehört? der im ausgehenden 18. jahrhundert geschriebene roman, der als vorlage für die verschiedenen verfilmungen des stoffes diente, hat nichts von seiner aktualität verloren. darin geht es weniger um das monster und seine untaten, sondern vielmehr um dessen schöpfer. er hadert mit seiner tat, dieser schöpfung eines wesens mit intelligenz und seele, welches sich nach nichts mehr als nach akzeptanz und zuneigung sehnt. sein grauenhaftes aussehen erschreckt alle, die ihm begegnen und verunmöglichen so jeden normalen kontakt. immer wieder zurückgewiesen und vereinsamt beginnt das monster die menschen zu hassen.
die zutiefst moralische, mehr als zweihundert jahre alte geschichte, die sich mit ethischen fragen auseinandersetzt, ist nach wie vor aktuell. war damals die schöpfung eines lebenden wesens utopisch, ist die wissenschaft heute mit genmanipulation und eingriffen am erbgut dabei geister zu rufen, die sich dereinst auch gegen die menschheit wenden könnten.