24.11.2017

andrea de carlo: ein fast perfektes wunder

wie zwei seelenhälften, die nach langer zeit zusammenfinden, wie zwei zwillinge, die nach langer trennung sich treffen, so sind die ersten zufälligen begegnungen von milena und nick. er, erfolgreicher lead-sänger einer weltberühmten band ist reich und steht unmittelbar vor der hochzeit mit seiner dritten frau. milena, kreative inhaberin einer kleinen glacé-manufaktur hat in einigen tagen einen termin zur künstlichen befruchtung, um mit ihrer freundin ein kind zu haben. ihre begegnungen stürzen beide in grosse zweifel und stellen ihre jetzigen sehr unterschiedlichen lebenssituationen grundsätzlich in frage. aber ganz langsam und nicht ohne zweifel bewegen sich nick und milena unweigerlich aufeinander zu.
mit einer dynamik und einer unheimlichen intensität werden die gefühle und empfindungen der beiden beschrieben. beides – die beinahe bis ans unerträgliche karikierte entourage von nick und die dynamik der beziehung der beiden frauen – entwickeln beim lesen einen sog, dem man sich nicht entziehen kann. und trotz allem ist es keine aschenbrödel-prinz-geschichte.

20.11.2017

philippe grimbert: ein geheimnis

der autor wächst als einzelkind seiner sportlichen eltern auf. schwächlich und geplagt von selbstzweifeln kann er die erwartungen seines vaters nicht erfüllen, leidet darunter und zieht sich in sich zurück. als jugendlicher erfährt er von louise, einer verwandten, die geschichte seiner familie, in der der vater seine jüdische herkunft zu tilgen versucht hat. die erste frau seines vaters und sein älterer halbbruder sind deportiert und in auschwitz umgebracht worden. erst später, nach seinem schulabschluss, entdeckt der erzähler in den archiven mehr und konfrontiert seinen vater damit.
trotz des grossen emotionalen potenzials der eigenen betroffenheit erzählt der autor mit einer gewissen sachlichen distanz, was dem buch eine enorme stärke gibt und tief berührt.

17.11.2017

atiq rahimi: verflucht sei dostojewski

in der zeit nach der sowjetischen besetzung afghanistans erschlägt der junge stundent rassul die alte wucherin nana alia. kaum ist es geschehen, kommt ihm roskolnikow aus dostojewskis roman «verbrechen und strafe» in den sinn und dieser geschichte entlang verlaufen auch rassuls nächste tage. die leiche verschwindet, niemand klagt ihn an, er bleibt allein mit seinem schwer belasteten gewissen. verzweifelt sucht er einen richter, der ihn zur rechenschaft zieht.
dieser philosophische roman über einen jungen mann, der in einer dauernden ausnahmesituation lebt, dies in einem von kriegswirren gezeichneten land, in dem die gesellschaftlichen werte dauernd in frage gestellt werden, ist ein dichtes werk. trotz der parallelen zu dostojewskis roman ist hier eine eigenständige und bewegende geschichte entstanden.

13.11.2017

hugo claus: der kummer von flandern

louis, der sohn der weitverzweigten familie seynaeve, wächst vor und während des zweiten weltkrieges in flandern auf. unter den flamen gibt es viele sympathisanten der deutschen, die bei deren einmarsch sich auf der siegerseite sehen. gegen ende des krieges wendet sich jedoch das blatt. die politischen meinungen gehen quer durch louis' familie und sind grund für misstrauen und viele diskussionen. louis beobachtet und kommentiert die geschehnisse in seinem nahen familiären umfeld und in seiner heimatstadt walle als kind und jugendlicher.
der erste teil des buches widmet sich den vielen familienmitgliedern und deren leben und schicksale. im zweiten teil erlebt louis das erwachsenwerden vor dem hintergrund der ereignisse in belgien und die nachkriegszeit.
teilweise spannend, teilweise langfädig ist das buch nicht einfach zu lesen und erfordert einiges an geduld. die unzähligen verwandten und weiteren plötzlich auftretenden personen machen es nicht einfach den ueberblick zu behalten. die collageartig angelegte geschichte kommt in einer komplizierten und schwierig zu lesenden sprache daher.
am ende weiss man aber einiges mehr über die geschichte belgiens, insbesondere flanderns, und beginnt die heutigen probleme zwischen flamen und wallonen besser zu verstehen.

05.11.2017

finn-ole heinrich: räuberhände

janik kommt aus einem geordneten und wohlhabenden elternhaus, bei samuel zuhause ist es eher desolat. seine alleinerziehende mutter ist alkoholikerin und lebt halbwegs auf der strasse. janik und samuel verbindet eine innige und tiefe jungenfreundschaft. sie teilen alles und haben keine geheimnisse voreinander. ein gravierendes erlebnis wirft einen schatten auf ihre freundschaft und nichts ist mehr so unbeschwert, wie es war. später reisen die beiden auf der suche nach samuels vater nach istanbul, wo sie eine schwierige zeit erwartet.
ein erfrischender und gleichzeitig ernsthafter roman, der emotionen und befindlichkeiten in dieser freundschaft treffend beschreibt. auf der suche nach sich selbst, versuchen sich die jungs zu befreien vom einfluss der erwachsenen und finden sich doch immer wieder in einer abhängigkeit. spannend ist das wechselnde machtgefälle zwischen den beiden und wie schuldgefühle die kommunikation hemmen.

03.11.2017

joachim b. schmidt: moosflüstern

anna lieber wird mit 300 anderen frauen und männern nach dem krieg angeworben nach island auszuwandern, um dort auf einem bauernhof zu arbeiten. sie verlässt ihren mann und ihren erst vor kurzem geborenen sohn heinrich. vierzig jahre später stirbt sie und erst jetzt erfährt heinrich von seinem vater, wer seine leibliche mutter war. er reist nach island auf der suche nach dem grab und dem grund, weshalb seine mutter ihn verlassen hat. und island lässt ihn nicht mehr los. parallel dazu erzählt anna zurückblickend ihre ganze geschichte seit ihrer ankunft in island.
moosflüstern ist eine wunderbare und fantasievoll erzählte geschichte, die letztlich den grossen emotionalen unterschied zwischen heinrichs vater und mutter erklärt und damit den grund von annas weggang aufzeigt. dazu kommen die einzigartigen beschreibungen von landschaft und wetter, von kargem und archaischem leben, die beim lesen einen unausweichlichen bann ausüben. bereits in der mitte des buches hofft man, die geschichte und damit der lesegenuss möge nie zu ende gehen.