30.03.2019

dörte hansen: altes land


vera lebt seit ihrem sechsten lebensjahr im alten land. dort kam sie mit ihrer mutter nach der flucht aus ostpreussen an und wurde bei bauern einquartiert. ihr leben lang ist sie aber nicht heimisch geworden zwischen diesen menschen, ein gefühl von fremdsein ist immer geblieben. viele jahre später steht ihre nichte anne mit kind vor der türe. sie ist aus einem hippen viertel in hamburg weggegangen, weil ihr mann eine andere frau liebt. in das mittlerweile still gewordene haus kommt neues leben und damit verändert sich jenes von vera.
der roman beginnt unmittelbar nach dem krieg und handelt vor dem hintergrund der gesellschaftlichen veränderungen der folgenden jahre. liebevoll beschreibt die autorin die menschen dieser gegend und ihren umgang mit fremden: die einquartierung der flüchtlinge aus dem osten ist mit vielen emotionen verbunden und wirkt über all die jahre nach. mit viel humor und nicht wenig sarkasmus nimmt sie sich dem zusammentreffen der bauern mit ausflüglern und siedlern aus der nahen stadt an. diese emotionale geschichte ist zügig geschrieben und gut zu lesen.

28.03.2019

ismail kadare: die pyramide

eigentlich will der junge pharao cheops gar keine pyramide bauen lassen, aber seine hofbeamten, minister und magier raten ihm dazu. denn das volk lebt im ueberfluss und dieses leben führt zu dekadenz und rebellion. um dies zu verhindern, auferlegt der pharao den menschen diese fronarbeit. es wird ein blutiges und tränenreiches unternehmen: tausende verunglücken und sterben, das einzelne menschenleben ist kaum noch etwas wert. ein immer repressiveres system entwickelt sich, in dem die aufseher und schergen alles unter kontrolle haben und eine uneingeschränkte macht ausüben. nur hinter vorgehaltener hand werden zweifel am sinn des pyramidenbaus geäussert.
die geschichte ist eine treffende parabel auf totalitäre und repressive machtsysteme, wie sie sich immer wieder irgendwo auf der welt installieren. am beispiel des über aller kritik stehenden bau der ägyptischen pyramiden wird uns das funktionieren solcher machtapparate vor augen geführt.

22.03.2019

amor towles: ein gentleman in moskau

kurz nach der oktoberrevolution wird der junge graf rostov zu lebenslänglichem hausarrest im hotel metropol verurteilt. dort wohnt er bereits in einer luxuriösen suite und muss diese nun aber mit einer kammer unter dem dach tauschen und als kellner im restaurant arbeiten. er verliert seinen humor, seine gelassenheit und seine ruhe nicht und findet sich in sein neues leben, das ihm nicht wenig freude macht. er wird zum renommierten oberkellner und findet in der sorge um das wohlbefinden seiner gäste seine bestimmung. eine freundin bittet ihn, sich ihrer sechsjährigen tochter sophie anzunehmen, weil sie ihrem mann in die verbannung nach sibirien folgen will. diese neue lebensaufgabe verändert das leben rostovs. mit nicht nur legalen mitteln überleben die beiden die jahre, bis sophie erwachsen ist.
abgesehen von der wilden, zeitweise beinahe unwahrscheinlichen geschichte, die hier ausgebreitet wird, faszinieren vor allem die einzelnen personen und das funktionieren der parteinomenklatura unter stalin und chruschtschow. die einflüsse des realen sozialismus auf den alltag in einem luxushotel, das so fern von dessen realität steht, könnten treffender nicht dargestellt werden. dieser sich über einige jahrzehnte erstreckende roman zeigt, wie in diesem schwierigen system der sowjetunion die menschen immer wieder wege und möglichkeiten finden, das beste aus ihrem leben zu machen. tiefgründigkeit, emotionalität und viel humor machen dieses buch zum echten lesevergnügen, das in einem überraschenden schluss endet.

14.03.2019

gianna molinari: hier ist noch alles möglich

eine junge nachtwächterin steht im zentrum der geschichte. sie lebt selbst innerhalb des fabrikgeländes, das sie bewacht und teilt sich die schichten mit clemens, dem anderen nachtwächter, der in der stadt wohnt. der kantinenkoch hat einen wolf gesehen, der sich an die essensabfälle herangemacht hat. die beiden nachtwachen haben den auftrag eine fallgrube auszuheben. ein mitarbeiter der fabrik hat etwas vom himmel fallen sehen. drei wochen später wird dort eine leiche gefunden, ein mann, der vom himmel fiel und an die tödlich ausgehenden migrationsversuche von menschen in den radkasten der flugzeuge erinnern. und dann gibt es noch ein paar weitere geschichten und ereignisse.
mit einer bildhaften, schönen sprache berichtet die autorin als ich-erzählerin von nachtarbeit und dem leben darum herum. dazwischen eingestreut gibt es ein paar zeichnungen, die irgendwie zum text passen oder diesen zu verdeutlichen versuchen. dazu gibt es noch einige wenige ganzseitige schwarz-weiss-fotografien, die ich nicht in verbindung mit dem text bringen konnte. die verschiedenen handlungsstränge finden einfach nicht zusammen, was beim lesen die frage nach dem sinn und der botschaft dieses buches aufkommen lässt. das ganze hinterlässt bei mir ein gespaltenes gefühl.

08.03.2019

vincenzo todisco: das eidechsenkind

bei seiner grossmutter in der heimat konnte das kind draussen spielen und andere kinder treffen. im fremden land, wo seine eltern arbeiten, wird es in der wohnung versteckt, weil es in diesem land gar nicht leben darf. tagsüber bleibt das kind, während seine eltern arbeiten, alleine in der wohnung zurück. es lernt sich unbemerkt zu bewegen, sofort im schrank zu verschwinden, wenn es klingelt, und keinen lärm zu machen. aber irgendwann führt die neugier es heimlich hinaus aus der wohnung ins treppenhaus und in wohnungen der anderen leute, wenn diese nicht da sind. einzig einem mädchen aus dem dritten stock vertraut das kind und gibt sich zu erkennen. in einem versteck im dachstock treffen sie sich. aber auch der professor mit den vielen büchern entdeckt das kind und beginnt es fürs lesen und lernen zu begeistern.
der saisonierstatus in der schweiz erlaubte ausländischen arbeitskräften keinen familiennachzug. unter diesen bedingungen lebten nicht wenige kinder versteckt bei ihren eltern, existierten offiziell nicht und konnten keine schule besuchen. der roman handelt von diesem heimlichen, versteckten leben und berichtet aus der sicht des kindes subtil, beinahe poetisch über die ereignisse in diesem durchschnittlichen mietshaus. die freundschaften und die hilfsbereitschaft der bewohner stellen der abhängigkeit der menschen und ohnmacht dieser arbeiterleben etwas entgegen. trotz einer eigentlich unmenschlichen geschichte ist das buch schön zu lesen.

04.03.2019

terézia mora: der einzige mann auf dem kontinent

als vertreter eines grossen amerikanischen konzerns betreut darius kopp einige länder in europa. doch die geschäfte laufen nicht mehr so gut. lange arbeitstage, dauernde erreichbarkeit, schwer verständliche entscheide aus der firmenzentrale in amerika machen ihm das leben schwer. er vermag den anforderungen nur knapp zu genügen und mit mässigen englischkenntnissen stösst er immer wieder an grenzen. trotzdem hält er durch und will den eher luxuriösen lebensstandard bewahren. das alles lässt seine ehe in die brüche gehen. am ende wird die firma mit einer anderen fusioniert: seine arbeit ist er los. es ist die geschichte eines mannes, der letztlich scheitert.
sprachlich etwas gewagt – mit vielen satzellipsen – zeichnet die autorin jedoch ein reales bild einer heutigen arbeitswelt, wie sie sein könnte. das fehlen einer wirklichen, durchgehenden handlung lässt einen mit der zeit auf das ende warten. einzig die nie tatsächlich ausgesprochene bösartigkeit in dialogen und gedanken verhilft dem text zu einer sehr eigenen faszination.