29.05.2020

vladimir sorokin: der schneesturm

in dolgoje, einem dorf tief in der russischen provinz, ist eine epidemie ausgebrochen. der landarzt garin muss dahin, um die menschen zu impfen, doch ein schneesturm kommt auf. nach einigem hin und her findet er kosma, einen kutscher, der ihn mit dem schneemobil dahin fahren soll. auf der reise ereignen sich einige komplikationen: sie kommen vom weg ab, die kufe des mobils bricht, schneewehen lassen den weg unsichtbar werden, aber immer wieder wendet es sich wieder so, dass sie weiterkommen oder auf menschen treffen, die ihnen helfen. ob sie ihr ziel wirklich erreichen, bleibt letztlich unbeantwortet. die handlung nimmt einen etwas unverständlichen und tragischen ausgang.
was wie ein roman von dostojewski oder tolstoi beginnt, entwickelt sich nicht nur inhaltlich sondern auch sprachlich in eine abwegige geschichte mit allerlei neuzeitlichen und abstrakten elementen. das klassische motiv der pflichterfüllung gegen alle naturgewalten wird hier irgendwie karikiert. diese lustig-traurige statire bleibt manchmal unverständlich, aber allein die schilderung von sturm und schnee lohnt, das buch zu lesen.

25.05.2020

james baldwin: von dieser welt

john wächst in harlem in einer streng religiösen familie auf. im gegensatz zu seinem halbbruder roy ist er ein eher sanfter, ruhiger und friedliebender junge. sein stiefvater ist prediger in einer kleinen schwarzen baptistischen bekennergemeinde und dementsprechend ist das leben stark von strengen aus der bibel abgeleiteten regeln geprägt. alles ist darauf ausgerichtet, tugendsam und ohne sünde zu leben um das ewige leben zu erreichen. aber beide, ursprünglich aus den südstaaten stammenden eltern tragen auch dunkle geheimnisse ihres früheren lebens mit sich. zwischen seinen eigenen gefühlen, den erwartungen seines stiefvaters und der liebe zu seinen eltern stehend spürt john, dass er ein anderes leben sucht. als roy eines tages von einer rauferei verletzt nach hause kommt, trifft john eine entscheidung, die seinem leben eine wendung gibt und man beginnt zu ahnen, wohin ihn seine zukunft führt.
die ungeschminkte und nichts beschönigende schilderung der sozialen verhältnisse und die bildhaft genaue vermittlung der religiosität und des damit verbundenen glaubens an ein besseres leben fügen sich zu einer bestechend genauen analyse. dieser autobiografisch geprägte roman aus den frühen 1950er jahren – in einer neuen uebersetzung erschienen – ist ein zeitdokument und hat nichts an seiner aktualität verloren. die hoffnung auf eine besseres leben hat sich auch heute noch für viele afroamerikaner nicht erfüllt.

22.05.2020

herta müller: atemschaukel

1944, nach der eroberung rumäniens durch die rote armee wird die dortige deutsche bevölkerung verhaftet und nach russland zu zwangsarbeit gebracht, so auch der 17-jährige leopold auberg. fünf jahre lager: schwerstarbeit unter härtesten bedingungen, ein alles beherrschender hunger und extreme klimatische bedingungen. «ich weiss, du kommst wieder», dieser satz, den seine grossmutter beim abschied sagte, hält leo am leben. nach fünf jahren ist die qual zu ende und er kann wieder heimkehren. doch zuhause ist nichts mehr wie früher. seine familie und er haben sich entfremdet, nichts von der alten gemeinsamkeit ist mehr da.
die autorin lässt leo von seinen erfahrungen erzählen. in kürzeren und längeren kapiteln berichtet er über seine geheimnisse als jugendlicher, über das lagerleben und die rückkehr. die chronologie tritt in den hintergrund zugunsten einer subtilen beschreibung von einzelnen erlebnissen, beobachtungen und begegnungen, die sich auf eine einzigartige weise zu einem gesamtbild fügen. leo kommt als anderer mensch zurück, seine familie und er finden nicht mehr zusammen. «seit der umarmung bei der heimkehr, seit acht monaten, hatte mich in diesem haus niemand mehr berührt», mit diesen worten ist beispielhaft alles gesagt.
dieses buch, das ganz anders ist als andere lagerberichte, enthält einen dichten und eindringlichen text, der beim lesen immer wieder gänsehaut und feuchte augen beschert.

16.05.2020

christoph keller: uebers meer

astèr und claude lernen sich in den 1980er-jahren während einer hausbesetzung in einer schweizer stadt kennen und sie verliebt sich in ihn. er ist ein eher flüchtiger geist und verlässt die anarchische gruppe bald. zwanzig jahre später lebt astèr in new york und reist nach djerba um dort claude wieder zu treffen. sie wartet vergeblich am hafen: er und sein segelboot bleiben aus. ein taxifahrer zeigt ihr in der zeit des wartens die insel und beinahe kommen sie bei einem attentat ums leben. durch die verletzung bleibt ein kleines metallteil in ihrem kopf, das ihr einige tage ihrer erinnerung raubt. zur gleichen zeit kommt ein afrikanischer flüchtling mit claudes boot auf lampedusa an und wird verdächtigt, den eigner umgebracht zu haben. aber alles hat sich ganz anders zugetragen, darüber gibt ein tondokument zeugnis.
der vielschichtige politische roman verknüpft verschiedene erzählstränge und menschliche schicksale geschickt miteinander. auch wenn einzelne teile etwas abenteuerlich daherkommen, fügt sich die geschichte zu einem überzeugenden ganzen. phasenweise verliert der autor sich etwas in details, was der spannung nicht förderlich ist. nicht alle figuren sind gleich überzeugend: der afrikaner touré und der taxifahrer tahar sind glaubwürdig und realistisch dargestellt, während die hauptprotagonistin astèr eher blass bleibt. insgesamt ein buch, das über die geschehnisse auf dem mittelmeer aus verschiedenen ganz besonderen perspektiven einzigartig und sehr berührend berichtet.

13.05.2020

alaa al-aswani: der jakubijân-bau

der schauplatz ist ein stattliches wohnhaus in kairo. in den grossen wohnungen leben gutsituierte leute. auf dem dach gibt es kleine kammern, die für die dienstboten vorgesehen sind. im verlauf der jahre ändern nicht nur die bewohner sondern auch die politischen bedingungen, die mehr und mehr machtmissbrauch, korruption und klientelwirtschaft mit sich bringen. die geschichten einiger menschen erzählen exemplarisch das leben in der kairoer altstadt. ein reicher abkömmling des adels, ein homosexueller chefredaktor einer zeitung, ein student, der sich radikalisiert und einem fundamentalen islam folgt, eine arme witwe und einige weitere personen sind die hauptprotagonisten.
der autor weiss in diesem spannenden roman eine gesellschaftskritische analyse zu präsentieren, die keinen moment langweilig oder wissenschaftlich trocken daher kommt. meisterhaft beschreibt er die einzelnen figuren, ihre gedanken und handlungen, aber auch die gegenseitigen abhängigkeiten über alle sozialen grenzen hinweg und zeichnet ein treffliches abbild des ägyptischen alltags im kleinen.

09.05.2020

thomas meyer: wolkenbruchs waghalsiges stelldichein mit der spionin

motti hat sich mit seiner jüdisch-orthodoxen familie überworfen, weil er sich mit einer schickse, einem nichtjüdischen mädchen, eingelassen hat. damit hat er auch sein zuhause verloren und lebt derzeit in einem hotel. es dauert nicht lange, da meldet sich ein vertreter der «verlorenen söhne israels», der ihn in seine organisation aufnimmt. was als selbsthilfegruppe daherkommt, entpuppt sich als zentrum der jüdischen weltverschwörung. als er später hulda kennenlernt und ihr verfällt, muss er erkennen, dass sie spionin einer verwegenen nazi-gruppe ist, die sich in eine alpenfestung in bayern zurückgezogen hat. beide organisationen haben die weltherrschaft zum ziel. doch dann reist mottis mutter auf der suche nach ihrem verlorenen sohn an und die geschichte nimmt eine weitere wendung.
das buch ist die fortsetzung der geschichte von wolkenbruchs «wunderlicher reise in die arme einer schickse». bis an die grenzen des erlaubten satirisch beschreibt der autor eine welt, die sich immer zwischen möglicher wahrheit und fiktion bewegt. spannung, amusement und absurdität halten sich in diesem leicht zu lesenden roman auf einzigartige weise die waage.

05.05.2020

philippe lançon: der fetzen

der bericht beginnt am vorabend eines ereignisses, das für ihn alles vollständig verändert. ein schöner abend mit einem theaterbesuch ist der letzte abschnitt seines bisherigen lebens. als er am nächsten morgen in der redaktionskonferenz von charlie hebdo in paris sitzt, dringen zwei terroristen in die räume ein und schiessen um sich. einige seiner kollegen sind sofort tot, einige überleben. philippe lançon bleibt schwerverletzt liegen und erlebt das grauen bei vollem bewusstsein. sein rechter unterkiefer ist durch einen schuss zerfetzt. was folgt ist ein monatelanger krankenhausaufenthalt mit unzähligen operationen. ein langwieriger genesungsprozess mit rückschlägen und fortschritten reduzieren ihn immer wieder auf schmerzen und leiden. in der kleinen geborgenen welt seines zimmers besuchen und unterstützen ihn seine freunde, hier beginnt er auch schon wieder zu arbeiten. aerztinnen, das pflegepersonal und die zu seiner bewachung abgestellten polizisten werden zu mehr als professionellen bezugspersonen. der anschlag hinterlässt nicht nur körperliche verletzungen, das ueberleben wird zeitweise lebensbedrohlich. auch in momenten der verzweiflung verliert er aber seinen lebensmut nicht und führt den kampf zurück ins leben, der ihn mit einigen unerwarteten schwierigkeiten konfrontiert.
mit einer enormen präzision beschreibt philippe lançon seine gefühle, befindlichkeit und beobachtungen während dieses langen spitalaufenthaltes und trotzdem kann man beim lesen sein unfassbares leiden nur erahnen. dazwischen leuchten immer wieder schöne momente guter begegnungen und fortschritte in der genesung auf. sein humor und sein zeitweise etwas sarkastischer blick auf die ihn umgebende und umsorgende welt lassen hoffen, dass er die herausforderung schafft. seine reflexion über abhängigkeit und macht als patient, über nähe und distanz zwischen ihm und dem personal werfen ein differenziertes licht auf dieses komplexe gefüge eines krankenhauses. letztlich sind es die menschlichen stärken einzelner, die ihm weiterhelfen, zurück zu sich zu finden und auch seine angst vor der entlassung zu bewältigen. dieses buch ist ein eindrückliches zeugnis davon, wie ein mensch eine existenzielle krise durchlebt und bewältigt.