30.03.2021

robert schneider: schlafes bruder

als zu beginn des 19. jahrhunderts in einem abgelegenen weiler im vorarlbergischen der kleine johann elias alder geboren wird, ahnt niemand, welch ausserordentliches gehör er entwickeln wird. diese fähigkeit macht ihn in der von armut, harter arbeit und frömmigkeit gezeichneten gesellschaft zum aussenseiter. nur peter, sein cousin sucht früh seine nähe. während der gottesdienste hört johann elias den schlechten zustand der orgel, lässt sich eines nachts in der kirche einschliessen, reinigt und repariert das instrument und beginnt darauf zu spielen. und weil das alleine nicht geht, bedient peter – in seiner bedingungslosen liebe zu elias – bald den blasebalg. aber elias' liebe gilt elsbeth, der schwester von peter. auch sie ist elias zugetan, wenngleich sie ihn auch etwas fürchtet. trotzdem wartet sie aber vergeblich auf ein zeichen vom schüchternen musiker und geht schliesslich auf wunsch ihrer familie die ehe mit einem anderen mann ein. als ein beamter, der ein verzeichnis aller orgeln im land erstellt, in den weiler kommt, entdeckt er elias' ausserordentliche musikalität und lädt ihn zu einem orgelfest ein. sein auftritt dort wird zu einem erfolg, aber elias flüchtet. zerrissen zwischen der liebe zur musik und zu elisabeth, will er nicht mehr schlafen: weil wer schläft, liebt nicht. so stirbt er mit 22 jahren.
dies ist ein buch, das seinesgleichen sucht. eine einzigartige, etwas mystische geschichte wird hier erzählt: in einem brutal realen umfeld stehen die bewohner des weilers im dauernden kampf gegen naturgewalten und feuersbrünste. alle sind hier mit allen verwandt, neid und missgunst sind hier ebenso weit verbreitet wie bigotterie und frömmigkeit. die sprache, die ohne antiquiert zu wirken an texte aus jener zeit erinnert, die komplexen satz-, genetiv- und gerundiumskonstruktionen, die die bilder dieses archaisch bäuerlichen lebens entstehen lassen, machen das lesen zu einem ganz besonderen erlebnis und entwickeln einen sog, dem man kaum widerstehen kann.

26.03.2021

benjamin quaderer: für immer die alpen

johannes kaiser kommt nach seinen zwillingsschwestern zur welt und muss sich als kleiner bruder gegen sie behaupten. bereits als kind ist er ein wacher kerl mit viel phantasie. als sich seine eltern trennen, wird er in einem kinderheim untergebracht, wo er sich nur schwer einordnen kann. schon früh lehnt er sich auf und geht seine eigenen, von den autoritäten nicht immer gern gesehenen wege. als jugendlicher wird ihm seine heimat liechtenstein schnell zu klein, er klaut das moped eines freundes und fährt damit bis nach spanien, wo er seine karriere als hochstapler beginnt. später zurück in der heimat arbeitet er bei einer bank, entwendet dort daten über finanztransaktionen, die er später den deutschen steuerbehörden verkauft. dies macht ihn zum meistgesuchten staatsfeind.
das grundmotiv des romans ist eine geschichte, die sich in liechtenstein wirklich ereignet hat. wieviel wahrheit, wieviel fiktion? diese frage lässt sich nicht genau beantworten, wird beim lesen aber auch immer weniger wichtig. das buch lebt stark von seiner witzigen und erfrischenden sprache und der phantasievoll und hochintelligent geführten handlung. der autor, mit den lokalen gegebenheiten bestens vertraut, lotet die verhältnisse dieses kleinen landes, in dem jede jeden kennt und alle irgendwie miteinander verbandelt sind, bis an seine grenzen aus. faszinierend beleuchtet er die rolle der monarchie und das funktionieren des finanzplatzes aus einer zeitweise ans sarkastische grenzenden optik. diese mischung aus geschichtsbuch, krimi und gesellschaftsdrama birgt spannung und unterhaltung vom besten.

20.03.2021

nadine gordimer: niemand der mit mir geht

das system der apartheid ist offiziell abgeschafft und südafrika ist im umbruch; das leben wird immer gefährlicher. hier handelt die geschichte von zwei befreundeten ehepaaren. vera stark, eine weisse juristin, arbeitet für eine stiftung, die versucht die umsiedlung der schwarzen bevölkerung zu verhindern, ihr mann ben ist künstler und bildhauer. sie haben ein offenes haus, in dem auch schwarze als freunde verkehren. nach langen jahren trennen sie sich, er zieht nach london, sie bricht mit ihrer vergangenheit, verkauft ihr haus und geht in die politik. didymus und sibongile maqoma, freiheitskämpfer des anc, sind nach jahren aus dem exil zurückgekehrt. während sibongile als frau eine politische karriere macht, ist es für ihren mann schwierig, nicht mehr in der ersten reihe zu stehen. er beginnt ein buch über die bewegung zu schreiben, was sich als schwierige aufgabe herausstellt. ihr öffentliches engagement wird von todes­drohungen überschattet.
es wird nie ganz klar, was die beiden paare ausser der gesellschaftspolitischen vision eigentlich verbindet. ihre lebensgeschichten und ihr handeln dienen eher als hintergrund für eine exemplarische darstellung der sich verändernden gesellschaft südafrikas. in einer komplexen und vielgestaltigen sprache lässt uns die autorin in vielen details die auswirkungen dieses unsäglichen systems der apartheid erahnen. die genaue kenntnis der lebensumstände und die faszinierende analyse der vehältnisse in der dortigen bevölkerung lassen das buch zu einem zeitdokument werden, das zu lesen keinen moment lang trocken, belehrend oder langweilig wäre.

12.03.2021

bov bjerg: serpentinen

der vater ist auf der schwäbischen alb aufgewachsen, heute lebt er in berlin. mit seinem sohn macht er eine reise in die welt seiner kindheit und trifft dort auf seine vergangenheit. seine eltern und grosseltern waren kriegsflüchtlinge aus dem osten und hatten keinen leichten stand. sein vater und sein grossvater haben sich das leben genommen. er selbst war oft aussenseiter. der sohn betrachtet diese ihm fremde welt mit den augen eines kindes und stellt immer wieder fragen, die andere perspektiven in die geschichte bringen.
hinter einer vagen handlung erscheint in diesem etwas collageartigen text die begegnung mit der vergangenheit und mit einem stück deutscher familiengeschichte. sowohl die auseinandersetzung damit, als auch die von generation zu generation vererbte depressionskrankheit lässt sich nicht immer einfach nachvollziehen: bleibt oft irgendwie an der oberfläche. die stärksten momente für mich waren die beschreibungen der reaktionen der dorfbewohner auf die flüchtlinge.

09.03.2021

sasha filipenko: rote kreuze

als der junge alexander in minsk eine neue wohnung mietet, macht er bald bekanntschaft mit seiner über 90-jährigen etwas aufdringlichen nachbarin tatjana. kaum trifft sie ihn auf der treppe, lädt sie ihn schon in ihre wohnung ein. eigentlich ist er gerade daran sein leben nach dem tod seiner frau neu zu organisieren, aber tatjana – getrieben von der drohenden demenz – hat nicht mehr viel zeit ihr leben zu erzählen. während der stalin-aera hat sie als uebersetzerin beim geheimdienst gearbeitet, wo sie vor allem anfragen des roten kreuzes zu bearbeiten hatte. als ihr mann in kriegsgefangenschaft gerät und sie dies auf einer liste entdeckt, manipuliert sie deren russische uebersetzung und meint, damit ihn und sich selbst zu retten, lädt aber die schuld auf sich, jemand anders zu einem potentiellen verräter gemacht zu haben. seit damals ist sie auf der suche nach diesem mann.
zwei menschen aus zwei ganz verschiedenen generationen treffen sich, beide haben ihre nächsten verloren. aber es ist nicht nur das, was sie verbindet, sondern es fasziniert ebenso, wie der junge alexander sich immer mehr auf die geschichte von tatjana einlassen kann und was dies bei ihm auslöst. dieser text über abhängigkeit und schuld, aber auch über eine kritische auseinandersetzung mit auswirkungen eines totalitären systems könnte mit blick auf die ereignisse im heutigen minsk nicht aktueller sein. trotz oder gerade wegen der hässlichen fratze, die das system zeigt, tritt eine tiefe menschliche beziehung zu tage und trotz der schwere der ereignisse bleibt der roman irgendwie leicht und behält etwas hoffnungsvolles. die dazwischen immer wieder dokumentierten anfragen des roten kreuzes geben einen zusätzlichen einblick über den umgang des damaligen regimes mit der genfer konvention.

02.03.2021

nino haratischwili: die katze und der general

nura, die tochter einer tschetschenischen familie träumt von einem anderen, modernen leben, fern der traditionen ihrer gesellschaft. während des krieges in ihrer heimat lässt sie sich auf kleine illegale geschäfte mit soldaten einer kleinen russischen einheit ein, um sich diesen traum zu finanzieren. aber sie gerät unter einen verdacht, der sie letztlich das leben kostet. alexander orlow, der als junger mann andere pläne hat, muss seine grosse liebe zurücklassen und wird in diesem krieg teil eben dieser russischen einheit und damit mittäter und mitschuldiger eines kriegsverbrechens. zehn jahre später ist er zu einem der reichsten oligarchen russlands aufgestiegen, aber die damaligen ereignisse um den tod nuras lassen ihn nicht los. er findet keine ruhe und entwickelt einen plan, um mit den früheren mitstreitern abzurechnen. die junge georgische schauspielerin, die er für seinen plan gewinnen will, weil sie nura so ähnlich sieht, beginnt aber, sich in dem vorhaben zu verselbständigen.
die stärke dieses werkes sind nicht nur der faszinierende wechsel zwischen dem thrillerverdächtigen handlungsverlauf und der akribischen beschreibung und analyse des postsowjetischen lebens, sondern auch die politischen aussagen und die treffenden milieubeschreibungen. mit einer atemberaubenden sicherheit beschreibt die autorin die mechanismen von abhängigkeit und gewalt, von macht und erpressung, die sich in dieser zeit des wertewandels und der quasi-abwesenheit des staates breit machen. dabei widmet sie sich intensiv den gefühlen und moralischen vorstellungen der einzelnen protagonisten. sprachlich brillant pendelt der text zwischen grauenvollen ereignissen, humorvoll-sarkastischen szenen und schönen bildern. dies alles ergibt eine einzigartige geschichte um schuld und sühne, die einen unweigerlich gefangen nimmt. die anfängliche schwierigkeit, sich im roman zu orientieren und den zeitsprüngen zu folgen, verliert sich schnell, denn die sich aufbauende spannung reisst nicht mehr ab und findet erst in den letzten zeilen ein völlig unerwartetes ende. ich musste lesen, bis mich die augen schmerzten.