09.03.2021

sasha filipenko: rote kreuze

als der junge alexander in minsk eine neue wohnung mietet, macht er bald bekanntschaft mit seiner über 90-jährigen etwas aufdringlichen nachbarin tatjana. kaum trifft sie ihn auf der treppe, lädt sie ihn schon in ihre wohnung ein. eigentlich ist er gerade daran sein leben nach dem tod seiner frau neu zu organisieren, aber tatjana – getrieben von der drohenden demenz – hat nicht mehr viel zeit ihr leben zu erzählen. während der stalin-aera hat sie als uebersetzerin beim geheimdienst gearbeitet, wo sie vor allem anfragen des roten kreuzes zu bearbeiten hatte. als ihr mann in kriegsgefangenschaft gerät und sie dies auf einer liste entdeckt, manipuliert sie deren russische uebersetzung und meint, damit ihn und sich selbst zu retten, lädt aber die schuld auf sich, jemand anders zu einem potentiellen verräter gemacht zu haben. seit damals ist sie auf der suche nach diesem mann.
zwei menschen aus zwei ganz verschiedenen generationen treffen sich, beide haben ihre nächsten verloren. aber es ist nicht nur das, was sie verbindet, sondern es fasziniert ebenso, wie der junge alexander sich immer mehr auf die geschichte von tatjana einlassen kann und was dies bei ihm auslöst. dieser text über abhängigkeit und schuld, aber auch über eine kritische auseinandersetzung mit auswirkungen eines totalitären systems könnte mit blick auf die ereignisse im heutigen minsk nicht aktueller sein. trotz oder gerade wegen der hässlichen fratze, die das system zeigt, tritt eine tiefe menschliche beziehung zu tage und trotz der schwere der ereignisse bleibt der roman irgendwie leicht und behält etwas hoffnungsvolles. die dazwischen immer wieder dokumentierten anfragen des roten kreuzes geben einen zusätzlichen einblick über den umgang des damaligen regimes mit der genfer konvention.

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