24.03.2022

cihan acar: hawaii

hawaii ist hier keine insel mit rauschenden palmen – hawaii heisst das stadtviertel zwischen industrieanlagen und bahntrassen, in dem vor allem türkische arbeiter mit ihren familien leben. hierher kehrt kemal zurück, nachdem seine vielversprechende fussballerkarriere wegen eines unfalls ein abruptes ende genommen hat. auf der suche nach sich selbst und seiner zukunft verbringt er die tage. er trifft auf alte bekannte, frühere freunde und versucht wieder mit sina, seiner früheren freundin, zusammenzukommen. gleichzeitig beginnen unruhen, die in einen richtigen strassenkampf zwischen neo-nazis und den migranten ausarten. kemal gerät, obschon er sich immer aus handgreiflichkeiten herauszuhalten versucht, mit hinein ins geschehen. danach will er nur noch weg von da.
aus der optik von kemal, der eine gewisse distanz zum geschehen zu halten versucht, wird hier die lebensrealität von jugendlichen aus migrantenfamilien aufgezeigt. gewalt, beleidigungen, unterdrückung, denen sie ausgesetzt sind, werden ebenso kritisch gesehen, wie die strukturen und machtverhältnisse innerhalb ihrer familien und gemeinschaft. der ungeschminkte einblick in das leben dieser parallelgesellschaft ist manchmal etwas überzeichnet, gleitet aber nie ins plakative ab. erfrischende momente, wie die dialoge mit seinem auto, lassen beim lesen hin und wieder auch etwas aufatmen. das buch – in einer klaren und direkten sprache geschrieben – vermag bis zum schluss die spannung zu halten.


23.03.2022

jürgen pettinger: franz

1922 geboren war für franz doms nicht die beste zeit, um als jugendlicher seine homosexualität zu leben. zur zeit seiner ersten erfahrungen mit anderen männern sind die nationalsozialisten bereits an der macht. nach 1938 werden auch in wien schwule männer von den behörden gezielt verfolgt. so kommt franz doms ein erstes mal mit dem gesetz in konflikt: er wird zu einem jahr gefängnis verurteilt. wieder in freiheit versucht er seinen bewährungsauflagen nachzukommen, was ihm aber nicht lange gelingt. sensibilität, gewisse leichtsinnigkeit und die suche nach der liebe bringen ihn wieder in gefahr. eine erneute festnahme führt letztlich zum todesurteil, das 1943 an dem damals 21-jährigen vollstreckt wird.
subtil und realistisch leuchten das leben und die lebensumstände dieses jungen mannes auf, der auf der suche nach sich selbst ist. exemplarisch berichtet der autor darüber, wie viele männer damals wegen ihrer sexuellen orientierung verfolgt worden sind. besonders eindrücklich bleiben mir die schilderungen des versteckten schwulen milieus und des gefängnisalltags in erinnerung. die zwischen dem text stehenden originaldarstellungen von vernehmungsprotokollen, gerichtsurteilen und anderen dokumenten illustrieren die damalige realität zusätzlich. auf deren grundlage wurde hier die mögliche lebensgeschichte von franz doms nachgezeichnet und ihm und den vielen anderen vergessenen opfern ein denkmal gesetzt.

20.03.2022

joachim b. schmidt: tell

eigentlich ist wilhelm tell ein wortkarger bergler, der selbst von seinen mitbürgern kaum verstanden wird. von diesem mann und seinem leben wird hier berichtet. etwa zwanzig menschen, die mit ihm zu tun haben, kommen in knapp hundert kurzen kapiteln zu wort, beschreiben begegnungen, ereignisse und tatsachen, die mit tell, seiner familie und seinem handeln zu tun haben. so entsteht ein bild das fern von dem ist, wie der nationalheld uns bisher begegnet ist. ohne ihn zu demontieren wird hier ein ganz anderer tell gezeichnet. auch gessler, den wir als seinen feind und widersacher kennen, erscheint als mensch mit familie und gefühlen, wie auch die weiteren protagonistinnen und protagonisten ein eigenes, markantes profil erhalten.
nein, so hat man die geschichte des nationalhelden noch nie gelesen, so ist die legendäre apfelschussszene noch nie beschrieben worden. ein faszinierender blick auf eine gestalt und auf die lebensumstände zu jener zeit bettet diese legende in eine mögliche geschichte. mutig und phantasievoll nimmt sich der autor seinem hauptdarsteller an. oft, wie zufällig erwähnt, erfährt man über das harte, entbehrungsreiche damalige leben. packende und überraschende szenen gehen immer wieder ineinander über und machen aus diesem buch nicht zuletzt auch ein sozialkritisches werk mit einem schönen, etwas mystischen schluss. spannend von der ersten bis zur letzten seite: man taucht in jene welt ein und kann kaum aufhören zu lesen.

17.03.2022

erich hackl: am seil

reinhold duschka versteckt während des 2. weltkrieges regina, die jüdische frau seines besten freundes, und deren tochter lucia vor den nazis. die beiden frauen haben niemanden mehr, auf den sie sich sonst verlassen könnten. in der werkstatt reinholds finden sie unterkunft und selbst nach der zerstörung dieses verstecks durch einen bombeneinschlag findet reinhold eine neue lösung. dank seiner beherztheit und dem uneingeschränkten gegenseitigen vertrauen entgehen die frauen der deportation: sie überleben die herrschaft der nationalsozialisten. nach dem ende des krieges bleiben die drei miteinander in kontakt. lange später will lucia mit dieser erzählung ihrem retter ein denkmal setzen. nur widerwillig lässt er sich erst im alter von über 90 jahren als «gerechter unter den völkern» in der gedenkstätte yad vashem in israel ehren. er bleibt ein bescheidener, wortkarger mann bis zum lebensende.
in einer schlichten, klaren sprache und ohne sensationslust ist diese erzählung, die eine wahre begebenheit darstellt, sehr authentisch und eindringlich. sie vermittelt das bild eines ausserordentlichen menschen, der einfach das getan hat, wovon er überzeugt war. der text nimmt einen beim lesen richtig gefangen und lässt einen am wirken dieses mannes teilhaben. ganz schön ist, dass die geschichte nicht bei der befreiung aufhört, sondern auch darüber berichtet, was danach war.

13.03.2022

james baldwin: giovannis zimmer

david zieht aus new york nach paris um frei und unabhängig zu sein. als er eines abends giovanni kennenlernt, der ihm mit charme und offener zuwendung begegnet, verlieben sich die beiden. damit wird davids geplante heirat mit seiner freundin hella in frage stellt. er ist hin- und hergerissen zwischen den beiden beziehungen und kann sich zwischen der konvention und seinem herzen nicht entscheiden. letztlich scheitern beide beziehungen: hella reist zurück nach amerika und giovanni begeht eine verzweiflungstat.
nach vielen jahren habe ich das in den 1970er-jahren erschienene buch wieder gelesen und bin erneut beeindruckt davon. die beschreibung des sozialen drucks und der stimmung im damaligen paris sind in einer wunderbaren sprache bildhaft dargestellt und fangen den zeitgeist treffend ein. ganz stark kommt die subtile, beinahe verhaltene beschreibung der inneren zerrissenheit davids, der seine homosexualität zunächst verdrängt, zum tragen. ein werk das jene zeit beschreibt, ihr aber weit voraus ist.

05.03.2022

andrej kurkow: graue bienen

sergej sergejitsch ist imker und lebt in in der umkämpften region donbass im osten der ukraine. der ganze konflikt interessiert ihn nicht, er ist nur für seine bienen da, die ruhe brauchen um nektar zu sammeln. deshalb beschliesst er seine bienenvölker in eine friedlichere gegend wegzubringen. auf seiner reise bis hinunter zur krim wird er mit menschen und deren lebensrealität in dem land konfrontiert, das er als seine heimat betrachtet.
ein schön und liebevoll gezeichnetes portrait eines menschen, den die konflikte nicht interessieren und der nur für seine leidenschaft lebt. parabelhaft wird die ordnung der bienenvölker den konflikten und dem chaos der menschen gegenübergestellt. mit dem ausbruch des krieges in der ukraine ist dieses buch brandaktuell geworden, lässt nicht nur einen teil der vorgeschichte aufleben, sondern zeigt auch deutlich, wie die menschen im land nur in frieden leben wollen.