27.07.2020

jens steiner: mein leben als hoffnungsträger

philipp hat seine lehre abgebrochen und ist aus seiner wohngemeinschaft rausgeflogen. uwe, der leiter eines recyclinghofs wird auf ihn aufmerksam, als er ihn stanniolpapier von der strasse aufsammeln sieht. er stellt ihn als neuen mitarbeiter und hoffnungsträger an. die beiden anderen mitarbeiter, joão und alberto, verfolgen am arbeitsplatz mit ihren nebengeschäften andere ziele. als eines der nicht ganz legalen geschäfte joãos schief zu gehen beginnt, wird gemeinsam alles mobilisiert, um solidarisch ein fiasko abzuwenden.
die geschichte berichtet vom etwas schwierigen leben des jungen philipp und könnte damit fast als jugendroman durchgehen. neben menschlichen aspekten, findet – leider etwas zu wenig – eine kritisch-humoristische auseinandersetzung mit der wegwerfmentalität der heutigen gesellschaft statt.

24.07.2020

joël dicker: das verschwinden der stephanie mailer

die ganze geschichte handelt in einem kleinen ort ausserhalb von new york an der ostküste der usa. nachdem vor zwanzig jahren eine grauenhafte bluttat aufgeklärt schien, beginnt die journalistin stephanie mailer, diesem gewaltverbrechen erneut nachzuforschen. sie behauptet, die damaligen ermittler, zwei junge beamte der state police, hätten sich getäuscht. kurz darauf verschwindet die junge journalistin. die beiden polizisten, die damals den täter überführt hatten, beginnen den fall wieder aufzurollen. die örtliche polizei ist wenig begeistert davon, aber anna, eine neue kollegin vor ort arbeitet mit ihnen zusammen. neue und überraschende erkenntnisse und ein paar weitere morde führen zum wirklichen täter, der noch im ort lebt.
die vielfältige und verschlungene handlung geht weit über einen kriminalroman hinaus. während das verbrechen langsam aufklärt wird, blickt man auf das leben und die politischen machtverhältnisse in diesem städtchen und erfährt viel über die beziehungsabgründe, die sich hinter den fassaden der schmucken häuser mit akkurat gepflegten vorgärten verbergen. die treffende beschreibung der strukturellen probleme der örtlichen polizei könnte aktueller nicht sein. faszinierend ist auch die darstellung, wie die persönlichen lebenserfahrungen der menschen den verlauf der geschichte beeinflussen. erst ganz zum schluss führt der autor die indizien überraschend zusammen und schafft damit einen roman, der richtig süchtig macht und in einem zug gelesen werden will.

19.07.2020

romana ganzoni: tod in genua

die angehende opernsängerin nina und der mathematikstudent paul treffen sich zufällig an der universität. beide lesen sie gerade das gleiche buch. so kommen sie ins gespräch und ihre beziehung beginnt. er nimmt sie ein erstes mal mit nach genua zu seiner legendären tante matilde, die den beiden ihren segen zur heirat gibt. sieben jahre später fahren sie zur beerdigung von matilde, die wohlhabend und lange schon verwitwet, gestorben ist. während dieser tage stellen sich existenzielle fragen über pauls und ninas ungewollt kinderlos gebliebene beziehung.
um es gleich vorweg zu nehmen: das buch hat mich nicht erreicht. zu sehr stehen die haltung gegenüber sozial schwächeren menschen und die insignien von wohlstand und reichtum im vordergrund, als dass das zentrale thema der kinderlosigkeit dieses paares zum tragen käme. insgesamt eine etwas seltsam angelegte geschichte, die durch ortsbeschreibungen der stadt durchaus lust machen könnten nach genua zu reisen. die passagen über den g8-gipfel und die eingestürzte morandi-brücke wirken eher verloren.

15.07.2020

james baldwin: nach der flut das feuer

in form eines briefes an seinen neffen berichtet james baldwin von seinen eigenen erfahrungen und seinen erkenntnissen über das leben der schwarzen in den vereinigten staaten. zum ersten mal widerfährt ihm ein uebergriff weisser polizisten im zehnten lebensjahr, er sieht seine altersgenossen in drogen- und alkoholkonsum abstürzen und er findet zunächst über seinen glauben und die aktivitäten in der kirche halt. er braucht einen enormen willen, seinen weg zu gehen. hundert jahre nach der abschaffung der sklaverei ist die gesellschaft noch weit entfernt von der gleichberechtigung. er beschreibt, wie jedes schwarze kind bereits früh realisieren muss, wo sein platz sein wird und welchen einfluss dies auf das zukünftige leben haben kann.
dieser visionäre text ist bald 60 jahre alt und hat nichts von seiner aktualität verloren. james baldwin beschreibt nicht nur die immer noch massive benachteiligung der schwarzen sondern analysiert auch präzis und schonungslos die haltung und das denken der weissen. er entwirft aber keine anklage nach einem schwarz-weiss-schema, sondern zeigt auf, wie tief alle – weisse wie schwarze – in diesen mustern gefangen sind und kaum herausfinden. auch schlägt er einen bogen zur situation in europa, wo die einwanderung von menschen aus afrika später und unter anderen vorzeichen stattfindet. er versteht es, mögliche handlungsperspektiven aufzuzeigen und diesem buch damit eine versöhnliche note zu geben.

13.07.2020

jan lurvink: lichtung

der ich-erzähler ist musiker und komponist, der in einer wohngemeinschaft lebt. daneben nimmt er an einem wissenschaftlichen test in einem schlaflabor teil. bei seinem eben komponierten musikstück stellt er am ende fest, dass diese komposition genau so viele takte hat, wie claire jahre alt ist. in claire ist er verliebt, aber die geschichte mit ihr ist nicht einfach. nach einer gewissen zeit der nähe verlässt sie ihn wieder. er bleibt philosophierend zum thema orpheus und eurydike zurück.
dies ist ein sehr spezielles buch, dessen sinn und botschaft sich mir nicht ganz erschliesst. der text wechselt abrupt zwischen den verschiedenen handlungssträngen, die kaum etwas miteinander zu tun haben. die stärke des romans, der beim lesen hohe konzentration erfordert, ist eindeutig die schöne sprache voll von überraschenden wendungen.

08.07.2020

hansjörg schertenleib: das regenorchester

ein aus der schweiz nach irland ausgewanderter schriftsteller wird von seiner frau verlassen. zwei wochen später lernt er niamh kennen, eine alleinstehende frau, die ihm seine lebensgeschichte erzählt und ihn somit zu ihrem biografen macht. sie lässt das leben im damaligen irland auferstehen: ihre jugend in einer grossen, armen, katholischen familie auf dem land. um arbeit zu finden verlässt sie dann ihre heimat, begegnet ihrer grossen liebe, die sie wieder verliert und kehrt erst über dreissig jahre später zurück. an krebs erkrankt, schliesst sie mit ihrem leben ab. der schriftsteller bleibt mit den erinnerungen zurück.
die spannende und stark emotionale lebensgeschichte von niamh fasziniert vom ersten moment an. deswegen lohnt es sich, das buch zu lesen und lässt darüber hinwegsehen, dass das leben und die gedanken des schriftstellers eher stiller und zurückhaltender natur sind und wie keine kraft daneben zu haben scheinen. der roman zerfällt wie in zwei hälften, das ist irgendwie schade.

03.07.2020

nino haratischwili: das achte leben (für brilka)

zu beginn des 20. jahrhunderts kommt stasia zur welt, die tochter eines erfolgreichen georgischen schokoladefabrikanten. mit diesem ereignis beginnt eine bewegte und weitverzweigte familiengeschichte über sechs generationen, die von stasias urenkelin niza für ihre nichte brilka aufgeschrieben und erzählt wird. vor dem hintergrund des untergehenden zarenreiches, von siebzig jahren sowjetunion und dem freiheitskampf der georgier berichtet dieser episch breite roman über eine ursprünglich wohlhabende familie. wie ein roter faden zieht sich das leben der uralt werdenden stasia durch das ganze jahrhundert. jede generation kämpft mit neuen herausforderungen, doch das grundthema bleibt immer dasselbe: nicht standesgemässe liebesbeziehungen, der machterhalt und eine aus den konventionen ausbrechende jugend. doch die weisheit und toleranz der alternden frauen vermögen die sippe zusammenhalten.
auf diesen 1275 nicht nur spannenden sondern auch unterhaltsamen seiten ist kein satz zu viel. geschickt bettet die autorin diese familiensaga in die geschichtlichen ereignisse ein. wunderbar detailliert gezeichnete figuren und bildhafte beschreibungen von orten und landschaften lassen einen schnell in diese welt eintauchen. auch fasziniert die kluge erarbeitung der frauen- und männerrollen in einem sich nur langsam auflösenden patriarchat. treffend beschreibt sie die divergenz zwischen wunsch und realität, die menschen im oft ignoranten und korrupten system gefangen hält. in dem gegen schluss immer manifester werdenden sozialen gefälle der gesellschaft fragen sich die menschen, wohin sie in diesem zaghaft einsetzenden politischen frühling eigentlich gehören. ein spannendes und aufregendes buch, in dem man trotz der sich weit ausbreitenden erzählung und der verschiedenen beteiligten personen nie den ueberblick verliert und das erstaunlicherweise ganz ohne cliffhanger die spannung bis zum schluss hält.